Wednesday, 7 May 2014

Exzerpt aus der Vorlesung MUïESIS - eine zeitgemäße Aufführungspraxis: 3. Punkt


3. Welcher Mittel bedarf die Kreation eines muïetischen Programms?

Ich habe mir mein Studium finanziert, indem ich Lesungen musikalisch umrahmte. Das kennen Sie vielleicht: Da sitzen ein oder mehrere Schauspieler oder Rezitatoren auf der Bühne und tragen sorgfältig selektierte Literatur zu einem bestimmten Thema vor. Das sind Briefwechsel oder Poesie, vielleicht auch kurze Prosastücke. Um dem Besucher einer solchen Veranstaltung das Aufnehmen aller Texte zu erleichtern, gibt es von Zeit zu Zeit einen Happen Musik exerziert. Diese Momente dürfen auf keinen Fall zu lang dauern, denn sie sollen den Besucher ja nur etwas erfrischen, um ihn wieder für das Wesentliche der Veranstaltung aufnahmefähig zu machen. Wie der Salat, der den Gaumen neutralisiert, damit man nach vollbrachtem Hauptgang wieder Geschmack für die Nachspeise gewinnt. Das hat mich damals sehr verdrossen und ich war froh, als ich dieser Art Broterwerbs ledig wurde. Nach meiner Auffassung kam es einer Mißachtung, ja einem Mißbrauch der Musik gleich. Daß die Zuhörer selbst eher unruhig und wie gezwungen dieses Muß an Musik über sich ergehen ließen, weil sie eigentlich gar nicht daran interessiert waren, sondern nur am Text oder am Vortrag desselben durch ihren Lieblingsschauspieler, konnte ich ihnen nur halb übel nehmen. Die Bauart einer solchen Veranstaltung macht es beinahe unmöglich, sich in die Musik fallen zu lassen. Stattdessen ist es weitaus einfacher, die soeben gehörten Texte in sich nachklingen zu lassen, während von außen noch etwas anderes klingt. Man kann das ja zur Not auch noch irgendwie wegfiltern.

Der Unmut über diesen Mißbrauch an der Musik wich bald der Überlegung, ob sich solches nicht auch umkehren ließe. Das heißt, die Musik ist und bleibt Mittelpunkt, und sämtliche anderen Künste gestalten sich um sie her, um den Zuhörer für das nächste Werk zu öffnen oder zu „neutralisieren“. 
Das umzusetzen habe ich dann, seit etwa 2007, versucht. Und erkannte: Es funktioniert in der Tat!

Zuallererst habe ich eine der klassischen Konzertgebärden beseitigt: Muïetische Konzerte entfalten sich in einem Stück, ununterbrochen von Zwischenapplausen nach jedem erklungenen Werk. Das ermöglicht eine Stringenz im Konzentrationsaufbau und hält den Zuhörer permanent am Geschehen und im Hören.
Diese Stringenz verwirklicht sich zudem durch eine kontinuierliche Flux an Ereignissen. Ein Werk fließt in das nächste, entweder durch verbindende Interludien, die improvisiert oder vorher ausnotiert worden waren, oder durch Worte, die die jeweils nächste Stimmung einläuten helfen sollen. Auch Darstellung, oder einfache Gesten, als verbindende Elemente sind möglich. Über allem steht ein Leitgedanke, eine diesen Zusammenhang schaffende Idee, die wiederum, per se, ein anregendes Moment sein kann. Sie kann aber auch einzig als dieses verknüpfende Fluidum fungieren, durch welches der Zuhörer von einer musikalischen Zelle und Welt in die nächste getragen wird. [...]

Einmal bin ich mit der Aussage konfrontiert worden: „Neuer Begriff für anscheinend alte, d.h. schon länger andauernde Versuche synästhetischer Erfahrungen.“
Diese Kritik hat mich von Grund auf mißverstanden und geht am Kern von Muïesis vorbei. Es geht mir nicht um Synästhesie. In der Regel ist die Kulisse muïetischer Programme eher einfach gehalten. Die Texte, das kann mitunter ein einziges Wort sein, werden eingespielt, übermitteln sich also akustisch, so es ein Bild gibt, steht dies zwar sichtbar auf der Bühne, wird aber niemandem aufgezwungen. Wer die Augen schließen mag, dem entgeht doch nichts vom Wesentlichen des jeweiligen Programms.
Dennoch zählt jedes Detail, denn der Zuhörer nimmt von den vermeintlich unbedeutenden Nebensächlichkeiten im Bühnengeschehen mehr wahr als wir meinen! Die Psychoakustik lehrt uns, daß wir Musik tiefer empfinden und nachhaltiger für uns gewinnen, wenn wir sie unter starken Gefühlen erlebt haben. Wie viele Liebende gibt es, die einen speziellen Song annektiert haben? Dies weil sie während des ersten Stelldicheins oder während der ersten intimen Momente das entsprechende Musikstück im Restaurant oder Radio gehört hatten. Das hat sich eingeprägt und fungierte fortan als „unser Lied“. Oftmals können die Erwähnten das Lied zu weiten Strecken schon auswendig, erinnern das Material also sehr gut. Die Hirnforschung hat bewiesen, daß der Mensch leichter lernt, wo er diesen Lernprozeß mit Emotionen verbindet. Vorzugsweise positiven.

Wenn der Konzertbesucher sich wohl fühlt, hört er ergo nicht nur bewußter zu, sondern nimmt auch mehr davon mit nach Hause. [...]

Solche relevanten Details beziehen auch die Kleidung des auftretenden Interpreten mit ein. Sie haben bereits die erste Szene meines aktuellen Programms THE RIGHTEOUS FATALE, welches ich Ihnen später in noch weiteren Auszügen vorstellen werde, erlebt.
Was geschah? Sie hörten mein Stück „Ritus“ für fünf Pauken in der Fassung für soundfile und gewahrten irgendwann eine Figur. In weiß, verschleiert. Sie wissen aus dem Programmheft (so Sie Teil einer Konzertaufführung wären), daß THE RIGHTEOUS FATALE Klytaimestra zur Protagonistin hat. Wissen auch um deren tragische Geschichte: Ihre einst aufgezwungene Vermählung mit Agamemnon, der dann späterhin die älteste gemeinsame Tochter Iphigeneia behufs guter Winde für die Überfahrt nach Troja opfert. Sie erinnern sich, daß Klytaimestra zur Schlächterin ihres Gatten wurde, um wenig später von ihres eigenen Sohnes Hand gemordet zu werden. All das ist Ihnen gegenwärtig, sobald das Konzert mit dieser Szene beginnt.

Nun kann dieser Rhythmus in Kombination mit der auftretenden Präsenz alles bedeuten: Das ist entweder der Gang zum Altar oder zum Opferstock. Das ist die zur Heirat gezwungene Klytaimestra, oder Iphigeneia, die zum Opferstein gerufen wird, nicht ahnend, daß sie ihrem Tod entgegen schreitet. Oder ist dies die spätere Priesterin auf Tauris und auf dem Weg zu ihrer Weihe? Und wenn es sich nur um den festlichen Aufzug des Chores, beginnend mit seiner Führerin handelt... Fakt ist, man weiß noch nicht, was passieren wird und ist dementsprechend neugierig auf das Folgende. Der perfekte Nährboden für das erste akustische Werk.

Was ich mit diesem Beispiel vermitteln möchte, ist, welch große Bedeutung die Kleidung haben kann. Jeder Theaterbesucher weiß das. Später im Programm werde ich mit weiteren Requisiten die Kraft dieser Garderobe noch erhöhen.

Man begegnet mir ferner öfter mit dem Begriff „Gesamtkunstwerk“ als Etikett für muïetische Konzerte. Nun trifft dies leider noch nicht den Kern der Sache, denn es stellt nur die Oberfläche dar, also wie sich Muïesis vermittelt. Daß die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen zu einem neuen Ganzen zusammenspielen und jedes Detail zählt, ist nur die eine Seite und vielmehr künstlerisches Mittel denn Zweck. Dieser bleibt die Bereitstellung von Zusammenhängen. Musik, die einst einen Zusammenhang besessen, ist aus diesem gerissen worden, sobald sie wahllos neben weitere Werke verschiedener Zeiten und Stile platziert wird. Folglich wird ein bewußtes und umfassendes Wahrnehmen derselben erschwert. Ein gutes Beispiel wäre die konzertante Aufführung von Meßkompositionen. Ursprünglich waren diese Werke ja ganz eindeutig im klerikalen Rahmen passiert, während des Gottesdienstes. Irgendwann haben sie sich verselbständigt. Man nimmt jetzt noch den Ablauf des römisch-katholischen Meßzyklus wahr, aber die eigentliche Essenz ist diesen Werken doch abhanden gekommen. Vor allem, wenn in modernen Konzertstätten aufgeführt. Ein gutes Stück Flair ist verloren gegangen, welches vielleicht hülfe, die Musik dem Menschen näher zu bringen. [...] Eine sehr umfangreiche und scharfsinnige Analyse dieses Prozesses und seiner Auswirkungen findet sich übrigens bei Dr. Peter Kivy, in seinem Buch „Authenticities – Philosophical Reflections on Musical Performanc“.
Als Gegenbeispiel und Beweis dafür, daß die Schaffung neuer Kontexte für klassische Musik durchaus Sinn ergeben kann denke man nur an Luchino Viscontis Film „Tod in Venedig“. Niemals nachher hat man Mahlers Adagietto tiefer gehört als durch diese Vermittlung. Es würde mich nicht wundernehmen, sollte mancher Kinogänger hernach zum Klassikfan sich entwickelt haben. Und vergessen Sie nicht Yann Tiersen. Rannten nicht nach dem großen Kinoerfolg von „Die fabelhafte Welt der Amèlie“ scharenweise selbsternannte Nachwuchstalente die Musikschulen nieder, um Klavierunterricht zu erhalten, von der Leidenschaft getrieben, das Stückchen „Comptine d’un autre été“ erlernen zu können? Ich würde behaupten, daß jeder es kennt. Was für ein Potential! Wenn man nur den richtigen Schlüssel findet, stößt der Empfänger die Tür zu nachhaltiger Musikliebe selbst auf. Denken Sie sich einen Film, der die Menschen mit gleicher Wucht mitreißt wie jene „fabelhafte Welt“ und dahinein ein Werk aus der verfemten Klassik. Sie wird diesen Nimbus verlieren, das Werk wird gefragt und in Erinnerung bleiben. Davon bin ich überzeugt. Und nun überlegen Sie ferner, was diesen Film so besonders machte? War es nicht u.a. die Liebe zum Detail und das Zelebrieren des Einfachen, welches so nachhaltigen Eindruck hinterließ? Plötzlich liefen die Menschen wieder mit offeneren Augen durch die Welt. Sahen sich um und auch die kleinen Dinge des Lebens in neuem Licht. Irgendetwas hatte ihre tiefsten Empfindungen gereizt. [...]

Ein muïetisches Konzert vermag das auch, so wage ich zu behaupten, und legt den Schwerpunkt dabei auf die Musik anstatt aufs Visuelle. Daher mag es etwas schwieriger sein und nicht ganz so populär, das Potential ist jedoch dasselbe. [...]

Die Macht der Musik ist ungebrochen. Wir müssen sie nur richtig zu vermitteln wissen, ihr die Wege etwas ebnen.