1. Warum brauchen wir
heute alternative Aufführungspraktiken? Was waren maßgebliche Faktoren für die
Entwicklung von Muïesis?
Es ist bekannt, daß die Musikempfänger zu Zeiten der Klangrede wußten, was die
„Symbole“ bedeuten. Die Musik sprach zu ihnen. Sie hat ihnen Lächeln entlockt
ob einer gewissen Phrasierung oder sie zu Tränen gerührt, auch, weil sie mit
dem musikalischen Material ihrer Zeit allzu gut vertraut waren. Sie konnten die
Musik daher besser schätzen und ergo auch einschätzen, was gut und was weniger
gut. Schon 20 Jahre alte Werke waren nicht mehr interessant. Noch besser: Eine
Symphonie, die man schon erlebt hatte, ging man sich eher selten ein zweites
Mal anhören. Wie anders sind im Vergleich unsere Zeiten! Und wie überaus klar
wird anhand dieses Geschichtsrückblickes, daß der heutige Zuhörer bei weitem
überfordert ist von der Masse des ihm Dargebotenen. Und damit spreche ich nur
von den seltenen Momenten des Konzerterlebnisses! Darauf beschränkt sich ja
bekanntermaßen das Musikempfangen heute nicht mehr. Jeden Tag, beinahe jede
Minute hört man doch irgendetwas von irgendwo – und wie oft ungefragt?
Erneut, Kritik braucht ein Maß an Vorbildung und in der Materie stehen. Sonst
bleibt sie hohl. Kritik heißt hier nicht vordergründig oder ausschließlich das
Bewerten der Komposition oder spezifischen Interpretation. Mit Kritik meine ich
zuallererst das Abwägen des Wertes, den das Gehörte für das eigene Leben inne-
oder gewonnen hat. Da dieses o.g. Maß an Vorbildung heute beim Gros der Hörer,
vielleicht bei niemandem mehr, nicht mehr gegeben ist, braucht es neue Wege der
Musikvermittlung. [...]
Wie bereits
erwähnt, werden dem Publikum Konzertprogramme zugemutet, die Musik aus
verschiedenen Jahrhunderten und Stilrichtungen präsentieren, von denen jedes
Werk für sich genommen eine Einführung und stilistische Vorbildung bedürfe, um
den Hörer in höchstem Maße und möglichst umfassend zu stimulieren.
Versuche wurden unternommen, dies durch Konzerteinführungen zu tun. Ich habe
diese oft erlebt und muß gestehen, daß sie beinahe ausnahmslos eher das
Gegenteil bewirkt hatten: Nicht nur, war ich nach gehaltener Vorlesung schon so
müde, daß ich für das eigentliche Konzert kaum mehr Kraft hatte, sondern ich
war zudem versucht, in der Musik immer die vorher besprochene Leitmotivik oder
Durchführung eines neuen, zweiten Themenkomplexes hören zu wollen. Wenn mir
dies entging, so fühlte ich mich dumm. Mein Nachbar hat es sicher gehört und
konnte prima folgen, nur ich habe versagt und weiß noch weniger als vor dem
Konzertbesuch. Das hat mich völlig verkrampft und mitnichten für die Musik
geöffnet. Wenn der Redner sich eher auf biographische Hintergründe zur
Werkgenesis beschränkt hatte, gingen mir diese Details im Kopf umher und hielten
mich so erfolgreich davon ab, die Musik unvoreingenommen auf mich wirken zu
lassen. Vielleicht sie überhaupt zu hören. Denn eigentlich hörte ich nur nach,
was soeben an Einzelheiten aus eines anderen Menschen Leben verklungen war. Ich finde solche
Einführungen im Konzertrahmen fehl am Platz und eher hinderlich. Sie sind für
andere Plattformen wiederum sehr gut geeignet.
Muïesis schafft Kontexte und damit Rahmen, in denen das Zuhören und Aufnehmen
der Musik wieder unverkrampft möglich wird. Dies auf eine sehr subtile Art. Dem
Zuhörer wird übrigens niemals vorgeschrieben, was er denken solle. Aus dem
einfachen Grund, weil es bei Muïesis vordergründig nicht um intellektuelles
Verstehen geht, sondern um ein Nachvollziehen auf emotionaler Ebene. Es werden
Zusammenhänge geschaffen, mit dem jeder Zuhörer etwas anfangen können sollte,
weil sie lebensnah und nicht theoretisch sind. In diesem Licht hört man Musik
offeneren Herzens. [...] Da Musik als Kunstrichtung nicht „tangibel“ ist, also den anderen Künsten
vergleichbar erlebbar, bleibt das Faßliche in ihr nichts als theoretische
Größe. Aber in der Musikausübung, im Konzertgeschehen geht es nicht um Theorie.
Jedenfalls nicht nach meiner Ästhetik. Alles ist faßlich - Kunst ebenso wie
Alltag. Und damit ist dieses „faßlich“ ein nivellierendes Charakteristikum,
das mich als Künstlerin nicht interessiert. Ich möchte, daß etwas mit dem
Empfänger geschieht, in ihm vorgeht, nachdem er etwas „begriffen“ und „erfaßt“
hat. Auch weil Musik
Zeitkunst ist, also verschwindet wenn gerade erst entstanden, muß sie im
gegenwärtigen Moment „begriffen“, vielleicht besser „ergriffen“ werden. Und man
muß Zusammenhänge herzustellen in der Lage sein, zu etwas, das zehn Minuten
zuvor gehört worden ist und von dem man weiß, es kehrt nicht wieder (im selben
Konzert). In der Bildenden Kunst reicht das Werk von rechts nach links und wer
dies Rechts vergaß, kann seine Augen wieder dahinbewegen, so oft er mag.
Dieses Herstellen übergeordneter Zusammenhänge ist Arbeit, erfordert ein Höchstmaß an Konzentration vom Zuhörer. Unsere heutige Lebensweise stellt nicht eben die beste Grundlage für eine solche Konzentrationsfähigkeit dar. Sie wird aber leichter möglich, wenn sich der Zuhörer wohl fühlt und mitnichten überfordert wird!