Wednesday, 7 May 2014

Exzerpt aus der Vorlesung MUïESIS - eine zeitgemäße Aufführungspraxis: 1. Punkt

1. Warum brauchen wir heute alternative Aufführungspraktiken? Was waren maßgebliche Faktoren für die Entwicklung von Muïesis?

Als konzertierende Künstlerin stehe ich praktischen Gegebenheiten gegenüber und erlebe regelmäßig erstens, daß in der Regel eher wenig von den Intentionen des Interpreten beim Publikum tatsächlich ankommt und daß zweitens die Säle zunehmend leer bleiben. Ersteres ist ein sehr umfangreiches Thema, zu dessen Erklärung ich weiter ausholen müßte, was hier nicht geschehen soll. Der Publikumsschwund ist ein Phänomen, das sich leichter erklären läßt. Die „nachwachsende Generation“ kann mit dieser Art Musik nichts anfangen. Warum nicht? Weil sie nicht oder nur sehr mangelhaft an die Musik herangeführt wurde. Ich habe beinahe zehn Jahre Erfahrung mit Publikum, das nicht per se künstlerisch vorgebildet ist und zu dessen musikalischer Bildung ich wesentlichen Beitrag leistete. Die etwas hochtrabende Idee gewisse Rahmen zu schaffen, um gerade die Leute „von der Straße“ und so wie sie kommen anzusprechen mutete mich seinerzeit als bereichernd für das eigene künstlerische Wirken an – dazu später mehr. Zweierlei fiel mir dabei über die Jahre auf: Jene Klientel teilt sich unbefangener mit, was die von ihnen erlebten Empfindungen angeht und verliert sich nicht in pseudo-intellektuelles Geschwätz, das oftmals ohnehin nur lückenhaftes Halbwissen kaschiert. Zweitens kommen die Menschen wieder, folgen Konzert auf Konzert. Weil sie berührt worden waren. Gleich welchen Alters! Nun hängt das Niveau an Tiefe bei der Wahrnehmung von Musik jedoch durchaus von Vorbildung ab. Diese fehlt wie erwähnt heutzutage zu häufig. (Ich meine damit nicht, wie viele Male hat X Symphonie Y bereits gehört.) Diese Tatsache läßt sich weder leugnen noch wegwünschen. Musik empfangen hat sich geändert, wir müssen im Konzertgeschehen darauf reagieren und können nicht früher bewährte Muster in die nächsten Jahrhunderte übernehmen. Der pluralistische Mensch hört anders als sein Vorfahr aus früheren Jahrhunderten. Es ist Irrsinn, das ignorieren zu wollen und auf die neuen Gegebenheiten nicht zu reagieren. Zum Thema Pluralismus beim Musikhören werde ich später noch einmal zurückkehren.

Was bedeutet dieser drastische Verlust der musikalischen Vorbildung des Zuhörers nun für uns ausübende Musiker? So sehr Binsenweisheit, so sehr scheint es mir doch nötig zu wiederholen, daß es Tatsache, daß man ein Kunstwerk weitaus besser schätzen und „genießen“ kann, je mehr man darüber weiß. Eine Tatsache, die heute leider zu leicht vergessen wird. Viele der Konzertgänger möchten vielleicht mitreden können, vermögen jedoch mit dem ihnen Gebotenen nichts anzufangen - das ist übrigens nicht nur bei der Musik der Gegenwart der Fall - und geben es daher entweder ganz auf, weiterhin Konzerte zu besuchen, oder schlichtweg das wieder, was ihnen in den Einführungsworten des Programmheftes vorgebetet worden war. Wenn man einem Nichtkenner Wein von vor 100 Jahren anbietet, wird er ihn wohl wenig mehr schätzen als irgendeinen Billigsud im Tetrapack. Er muß sensibilisiert werden. Das heißt nicht zu intellektualisieren. Vielmehr denke ich an die Zugabe von Käse und Brot, die dem Weinkostenden den Genuß erleichtern kann. Um zu konkretisieren, ich spreche von Mitteilung des wirklich Empfundenen. Dasselbe Werk Musik wieder und wieder zu hören, aber nicht wahrnehmend zu hören, füllt diese Lücke nicht etwa aus. Man kann nach dem dritten Mal vielleicht die Melodien mitsummen und erschrickt nicht mehr bei subito Fortestellen. Hat man deshalb etwas vom Wesentlichen des Werkes verstanden? Hat es die Kraft erlangt, einen zu ändern? Tiefgründig zu berühren?
Es ist bekannt, daß die Musikempfänger zu Zeiten der Klangrede wußten, was die „Symbole“ bedeuten. Die Musik sprach zu ihnen. Sie hat ihnen Lächeln entlockt ob einer gewissen Phrasierung oder sie zu Tränen gerührt, auch, weil sie mit dem musikalischen Material ihrer Zeit allzu gut vertraut waren. Sie konnten die Musik daher besser schätzen und ergo auch einschätzen, was gut und was weniger gut. Schon 20 Jahre alte Werke waren nicht mehr interessant. Noch besser: Eine Symphonie, die man schon erlebt hatte, ging man sich eher selten ein zweites Mal anhören. Wie anders sind im Vergleich unsere Zeiten! Und wie überaus klar wird anhand dieses Geschichtsrückblickes, daß der heutige Zuhörer bei weitem überfordert ist von der Masse des ihm Dargebotenen. Und damit spreche ich nur von den seltenen Momenten des Konzerterlebnisses! Darauf beschränkt sich ja bekanntermaßen das Musikempfangen heute nicht mehr. Jeden Tag, beinahe jede Minute hört man doch irgendetwas von irgendwo – und wie oft ungefragt?

Erneut, Kritik braucht ein Maß an Vorbildung und in der Materie stehen. Sonst bleibt sie hohl. Kritik heißt hier nicht vordergründig oder ausschließlich das Bewerten der Komposition oder spezifischen Interpretation. Mit Kritik meine ich zuallererst das Abwägen des Wertes, den das Gehörte für das eigene Leben inne- oder gewonnen hat. Da dieses o.g. Maß an Vorbildung heute beim Gros der Hörer, vielleicht bei niemandem mehr, nicht mehr gegeben ist, braucht es neue Wege der Musikvermittlung. [...]

Wie bereits erwähnt, werden dem Publikum Konzertprogramme zugemutet, die Musik aus verschiedenen Jahrhunderten und Stilrichtungen präsentieren, von denen jedes Werk für sich genommen eine Einführung und stilistische Vorbildung bedürfe, um den Hörer in höchstem Maße und möglichst umfassend zu stimulieren.
Versuche wurden unternommen, dies durch Konzerteinführungen zu tun. Ich habe diese oft erlebt und muß gestehen, daß sie beinahe ausnahmslos eher das Gegenteil bewirkt hatten: Nicht nur, war ich nach gehaltener Vorlesung schon so müde, daß ich für das eigentliche Konzert kaum mehr Kraft hatte, sondern ich war zudem versucht, in der Musik immer die vorher besprochene Leitmotivik oder Durchführung eines neuen, zweiten Themenkomplexes hören zu wollen. Wenn mir dies entging, so fühlte ich mich dumm. Mein Nachbar hat es sicher gehört und konnte prima folgen, nur ich habe versagt und weiß noch weniger als vor dem Konzertbesuch. Das hat mich völlig verkrampft und mitnichten für die Musik geöffnet. Wenn der Redner sich eher auf biographische Hintergründe zur Werkgenesis beschränkt hatte, gingen mir diese Details im Kopf umher und hielten mich so erfolgreich davon ab, die Musik unvoreingenommen auf mich wirken zu lassen. Vielleicht sie überhaupt zu hören. Denn eigentlich hörte ich nur nach, was soeben an Einzelheiten aus eines anderen Menschen Leben verklungen war. Ich finde solche Einführungen im Konzertrahmen fehl am Platz und eher hinderlich. Sie sind für andere Plattformen wiederum sehr gut geeignet.

Muïesis schafft Kontexte und damit Rahmen, in denen das Zuhören und Aufnehmen der Musik wieder unverkrampft möglich wird. Dies auf eine sehr subtile Art. Dem Zuhörer wird übrigens niemals vorgeschrieben, was er denken solle. Aus dem einfachen Grund, weil es bei Muïesis vordergründig nicht um intellektuelles Verstehen geht, sondern um ein Nachvollziehen auf emotionaler Ebene. Es werden Zusammenhänge geschaffen, mit dem jeder Zuhörer etwas anfangen können sollte, weil sie lebensnah und nicht theoretisch sind. In diesem Licht hört man Musik offeneren Herzens. [...] Da Musik als Kunstrichtung nicht „tangibel“ ist, also den anderen Künsten vergleichbar erlebbar, bleibt das Faßliche in ihr nichts als theoretische Größe. Aber in der Musikausübung, im Konzertgeschehen geht es nicht um Theorie. Jedenfalls nicht nach meiner Ästhetik. Alles ist faßlich - Kunst ebenso wie Alltag. Und damit ist dieses „faßlich“ ein nivellierendes Charakteristikum, das mich als Künstlerin nicht interessiert. Ich möchte, daß etwas mit dem Empfänger geschieht, in ihm vorgeht, nachdem er etwas „begriffen“ und „erfaßt“ hat. Auch weil Musik Zeitkunst ist, also verschwindet wenn gerade erst entstanden, muß sie im gegenwärtigen Moment „begriffen“, vielleicht besser „ergriffen“ werden. Und man muß Zusammenhänge herzustellen in der Lage sein, zu etwas, das zehn Minuten zuvor gehört worden ist und von dem man weiß, es kehrt nicht wieder (im selben Konzert). In der Bildenden Kunst reicht das Werk von rechts nach links und wer dies Rechts vergaß, kann seine Augen wieder dahinbewegen, so oft er mag.

Dieses Herstellen übergeordneter Zusammenhänge ist Arbeit, erfordert ein Höchstmaß an Konzentration vom Zuhörer. Unsere heutige Lebensweise stellt nicht eben die beste Grundlage für eine solche Konzentrationsfähigkeit dar. Sie wird aber leichter möglich, wenn sich der Zuhörer wohl fühlt und mitnichten überfordert wird!