Wednesday 8 July 2015

Musikstudenten besprechen eine muïetische Aufführung; Daniel H. (Mai 2015)


Über die Bedeutung von Musik

“Die Erziehung zur Musik ist von höchster Wichtigkeit, weil Rhythmus und Harmonie machtvoll in das Innerste der Seele dringen.” (Platon, griechischer Philosoph, 427-437 v.Chr.)

Sucht man im Internet mit den Schlagworten “Musik” und “Bedeutung”, zeigt sich, dass die Bedeutung von Musik für bestimmte Bereiche unseres Lebens von großer Wichtigkeit zu sein scheint. Als Beispiele finden sich Aufsätze zur Bedeutung von Musik für die frühkindliche Erziehung, den Menschen als Wesen, ihrer Bedeutung in verschiedenen Kulturen oder für den Glauben. Kurz: Die Bedeutung der Musik wird immer in Bezug auf unser alltägliches Leben betrachtet. Gehen wir davon aus, dass Musik immer eine Bedeutung hat, sind Musik und Bedeutung auch immer voneinander abhängig. Wird Musik beispielsweise nur als Teil der frühkindlichen Erziehung gesehen, wird sich ihre Bedeutung auch darauf beschränken. Daraus ergibt sich wiederum, dass wir so offen wie möglich sein müssen, der Musik Platz in unserem Leben einzuräumen. Nur dann, wenn wir sie nicht einschränken, können wir ihre volle Bedeutung erfassen.
Über die Absolutheit der Musik als Kunstform muss nicht diskutiert werden: Musik an sich ist immer absolut, ob sie so auch wahrgenommen wird, hängt von ihrem Gebrauch ab: Programmmusik (Musik als Teil eines außermusikalischen Programms) oder absolute Musik (Musik ohne Programm). Aber ist die Musik auch absolut als Sache an sich, unabhängig vom Komponisten?

Die meisten Musiktheoretiker gehen davon aus, dass Musik nur Musik ist, wenn sie absichtlich von Menschen als solche gemacht wird. Abgesehen von Ausnahmen wie dem gedankenverlorenen Vor-sich-hin-pfeifen, wird Musik meistens auch für Menschen, Publikum, gemacht. Damit steht fast jede Musik in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext und hat einen konkreten Zweck. Sie wird zu einer bestimmten Zeit (innerhalb der Geschichte) gemacht bzw. geschrieben und orientiert sich an bestimmten Vorbildern (Traditionslinien innerhalb der Musik).”[i]

Die Bedeutung der Musik wäre damit nicht unabhängig vom Menschen, wobei hier angemerkt sei, dass die musikalischen Vorbilder nicht immer gegeben sind.“Schließlich haben avantgardistische Komponisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz bewusst die Grenzen dessen, was Musik ist, gesprengt.”
Aber wird Musik von allen Menschen verstanden, bzw. gibt es verschiedene Bedeutungen?

“Musik weckt ähnliche Gefühle über Kulturgrenzen hinweg, ihre Bedeutung kann jedoch unterschiedlich wahrgenommen werden.”[ii]

Musik hat immer eine Bedeutung. Aber es muss nicht für jeden Menschen zwangsläufig dieselbe sein. Sie scheint jedoch immer Bezug zum kulturellen Kontext nicht der Musik sondern der Menschen die diese erleben.

zum Konzert Sing, Vogel meiner Seele, sing! von Heloise Ph. Palmer

Gerade weil unsere Hörgewohnheiten, der kulturelle Kontext mit dem wir vertraut sind, unsere Wahrnehmung von Musik beeinflussen, war es ein spannendes Erlebnis, Musik aus einem ganz anderen Teil der Welt in einem muietischen Konzert dargeboten zu bekommen. Die Künstlerin hat bewusst den Nahostkonflikt als Thema gewählt, gebrauchte Musik aus einer bestimmten Kultur, die uns zunächst fremd ist. Allerdings lässt sich die Bedeutung von Sing, Vogel meiner Seele, sing!  nicht allein auf diese Kultur reduzieren. Es geht Heloise Palmer darum, den Fokus auf unseren Umgang miteinander zu legen.

“This war happens in us, and all around us. It doesn´t need to be related to the Middle East; we´re all faced with the same brutality and stubbornness in our daily lives.”[iii]

Es gibt also zwei Bedeutungsebenen: Eine kulturelle, die räumlich wie zeitlich gebunden ist und eine universelle, die gleichzeitig eine persönliche ist. Mir hat zunächst der sparsame Einsatz von Licht, und die Videoprojektion geholfen, mich gedanklich von der Fixierung auf den Nahen Osten zu lösen und Elemente wie die Einspielung der Hymnen der verfeindeten Länder oder der Gebrauch eines Schellenkranzes dennoch geholfen, das Werk einordnen zu können. Es schwebt nicht abstrakt im Raum und hat nichts zu sagen weil es alles sagen könnte, sondern lässt sich verorten, was mir einen Bezug ermöglicht.

Die Musik steht klar erkennbar im Vordergrund des Programms ohne von anderen Elementen überdeckt zu werden, eine Bestätigung der Autonomie der Musik gegenüber anderen Künsten. Besonders gefallen hat mir, dass gesprochener Text mit der Musik kontrastiert, da es sich hierbei beides Mal um Kunst handelt, die ausschließlich in der Zeit erlebbar ist. Andere Formen wie beispielsweise das Gestalten der Bühne mit Farben, wie beispielsweise die Abdeckung des Toy Pianos, tritt vergleichsweise zurück, die Raumkunst unterstützt die Zeitkunst. Sonst bestünde eventuell die Gefahr der Ablenkung durch statisch-visuelle Eindrücke.
Auch die Bildprojektion arbeitet mit einfachen Mitteln: einem weißen Kreis auf schwarzem Grund. Das Toy Piano symbolisiert das unschuldige Kind. Faszinierend fand ich, dass die Musikstücke auf den ersten Blick “nur” gespielt werden, ohne großes Aufhebens, und dennoch ist jedes Detail auf der Bühne durchdacht. Das macht die Konzerterfahrung sehr intensiv.

Meiner Meinung nach hat es die Künstlerin geschafft, Mittel zu finden, die die Bedeutung der Musik unterstützen statt Erklärfunktionen zu übernehmen, nur dann lässt sich ihr Einsatz rechtfertigen. Denn Musik muss immer für sich selbst sprechen können, sonst wäre sie nicht autonom. Und: Es muss genügend Raum für den Zuhörer geben, sich selbst ein Bild zu machen. Die Verantwortung des Künstlers liegt auch darin, seinem Publikum einen (von vielen) Zugang zu ermöglichen und zu vermeiden, es zu bevormunden.

Mai 2015; Daniel Hägele (Schulmusik)





[iii] Heloise Palmer in Conversations; J. Palmer, S. 190, Vision Edition, 2015

Friday 3 July 2015

Musikstudenten besprechen eine muïetische Aufführung; Xenia B. (Mai 2015)


Inwiefern kann die Wahrnehmung der Bedeutung eines musikalischen Werkes
durch andere künstlerische Mittel unterstützt werden? 

-I- allgemeine Betrachtung

Dem Künstler, also- in unserem Fall- dem Musiker ist es stets selbst überlassen, wie er seine Musik, die Interpretation dieser und die Bedeutung, die er ihr gibt, seinem Publikum nahe bringen möchte. Normalerweise entscheidet er sich allein für die Musik und möchte seine Zuhörer mit nichts Übrigem vom Eigentlichen ablenken. Das heißt, er ist klassisch schwarz angezogen, er geht ruhig auf die Bühne, auf welc-her er seine Interpretation des Musikstückes am Instrument präsentiert, er verbeugt sich, und verschwindet wieder. Damit hat er die Musik so ausschließlich präsentiert, dass der Zuhörer, der also hauptsächlich akustische, musikalische Eindrücke erfahren hat, eben solche in seinen eigenen, ihm logisch erscheinenden oder emtional verständlichen Zusammenhang stellt. So wäre es auch zu einem großen Prozentsatz dem Publikum überlassen, der Musik eine Bedeutung zu geben. Während der Musiker auf der Bühne also ein Musikstück wie oben genannt präsentiert, stellt sich Zuhörer A das sonnige Panorama einer Bergwanderung vor, das Stück löst in Zuhörer B Langeweile und Unverständnis aus, wobei Zuschauer C es doch mit seiner verstorbenen Großtante verbindet, die es Tag und Nacht hörte.

Die Alternative zu beschriebener Aufführungspraxis ist das Erschaffen eines Gesamtkunstwerkes, indem man die Musik in einen bestimmten Zusammenhang stellt, der durch andere künstlerische Mittel unterstrichen und ergänzt wird. So hat der Musiker- oder dann der Künstler- die Möglichkeit, dem Publikum ein umfassendes Bild seiner Vorstellung zu verschaffen, indem er beispielsweise Poesie, Epik oder Darstellen-de Kunst einbezieht, und damit nicht ausschließlich den Hörsinn seines Publikums beschäftigt. Jetzt wird also die Auffassung der Musik nicht festgelegt, aber in eine bestimmte Richtung gelenkt, was den Zuhörern, die vielleicht eigentlich wenig mit dem Stück anfangen können, ermöglicht, dieses durch zusätzliche visuelle oder sprachliche Eindrücke einzuordnen oder zu verstehen. Erfahrenen Zuhörern (z.B. guten Musikern) kann dieses Gesamtkunstwerk, wenn es denn eins ist und nicht eine wilde, ungeordnete Zusammenstellung verschiedener Künste, ein anderes, eventuell neues und aufmerksameres Hören näher brin-gen.
Das Risiko oder die Herausforderung für den Künstler auf der Bühne ist allerdings hier ein(e) viel größere(s). Dadurch, dass er diesen roten Faden seines Gesamtkunstwerkes festlegt, hat er interpretatorisch viel mehr Angriffsfläche als jemand, der nur die Musik präsentiert. Da die Bedeutung und Wahrnehmung von Musik und Kunst noch viel subjektiver ist, als das bloße Hören von Klängen, kann die Gefahr sein, dass das Publikum das Werk des Musikers nicht nachvollziehen kann, den Zusammenhang zwischen Musik und dem Übrigen nicht versteht oder es als starke Ablenkung empfindet und sich in seiner Wahrnehmung zu beeinflusst oder sogar bevormundet fühlt.

-II- zum Konzert von Heloise Ph. Palmer

Der Besuch des Konzertes der Pianistin Heloise Ph. Palmer schuf neue Erkenntnisse über die beschriebene Aufführungspraxis. H. Palmer prägt schon lange eine bestimmte Form von musikalischem Gesamtkunstwerk, welches unter dem Namen 'muiesis' (musik, gr.: poiesis) bekannt ist. „Sing, Vogel meiner Seele, sing!“ unter dem Thema Frieden ist ein Konzert neben anderen Konzerten zu verschiedenen Themen in der Muiesis-Reihe.

Das weit über das Musikalische hinausgehende Konzert beginnt mit dem stillen Auftritt von H. Palmer, die sich an ein Rednerpult, das sich neben einem Flügel, einer Leinwand und einem Toy Piano auf der Bühne befindet, stellt. Entgegen aller Erwartung hört das Publikum eine eingespielte Männerstimme, die anfängt, die Geschichte vom Kind im Kreidekreis (vgl: 'der kaukasische Kreidekreis', B. Brecht), formuliert von der Künstlerin, zu erzählen. Dazu werden jeweils ein paar Worte des Gesagten an die Leinwand geworfen. Die Musikerin geht ans Klavier und spielt Werke von israelischen und ägyptischen Komponisten, da es ihr, wie wir später erfahren, besonders um diesen Krieg geht, wobei sie Palästina mit dem Kind in der Mitte des Kreidekreises verbindet. Auf der Leinwand sieht man im Laufe des Konzerts zuerst einen halben, dann einen ganzen weißen Kreis, die Künstlerin spielt außerdem Blockflöte und Toy Piano. Desweiteren verwendet H. Palmer für ihren muietischen Auftritt digital gemischte Musikfragmente, die über einen Lautsprecher eingespielt werden.
Diese völlig andere Herangehensweise an die Musik schafft eine neue Atmosphäre, fast wie in einem Film, wodurch man das Gefühl hat, sich fallen lassen zu können und sich auf weitere, andere Bedeutungen der Musik einzulassen. H. Palmer sagt, in ihren Aufführungen soll die Musik auf keinen Fall nur als Mittel oder als Umspielung des Zwecks und der sachlichen Aussage wahrgenommen werden. Sie fühlt sich als Musikerin und schafft es, durch ihre Musik dem Hörer Dinge mit auf den Weg zu geben, die man bei einem klassisch aufgeführten Konzert nicht erfahren würde.

Ein einfaches Beispiel dafür ist ihre Improvisation am Klavier über beide Frauen, die an dem Kind zerren. Ohne diesen Zusammenhang von Musik und ihrer Bedeutung und der damit verbundenen bildlichen Vorstellung in den Köpfen der Zuhörer wäre die Aussage dieses Stückes nicht voll ausgeschöpft. In diesem Konzert erfuhr man also eine Wechselwirkung, in welcher einerseits die sachlichen Inhalte durch die Musik veranschaulicht und verstärkt werden und andererseits vervollständigt der Zusammenhang auch die Musik und gibt ihr Bedeutung. Die Musikerin möchte ihr Publikum zum genaueren, aufmerksameren Zuhören bewegen, um sie damit auch an modernere, unbekannte Musik heranzuführen. Das schafft sie beispielsweise, indem sie den Höhepunkt des Konzertes besonders hervorhebt, weil sie ihre Musik durch einen Lautsprecher erklingen lässt, anstatt sie wie bisher, live zu spielen. Der Zuhörer wird von dem ungewöhnlichen Mittel wieder aus seinen alten Gedanken gerissen und versucht hinter dem neuen Medium einen Sinn zu entdecken, er hört also wahrscheinlich wacher zu als bei einem klassischen Klavierrezital, bei dem auch das Klangmedium festgelegt ist.

Grundsätzlich lässt sich also sagen, dass Muiesis- oder allgemeiner- die Aufführung von musikalisch fokussierten Gesamtkunstwerken der Musik eine (neue) Bedeutung gibt, die es dem Künstler trotz großem Aufwand im Endeffekt erleichtert, was er der Welt mitteilen oder dem Publikum zeigen möchte. Obwohl ein Musikstück allein durch die Interpretation des Künstlers auch aussagekräftig sein kann, kann man mit weiteren künstlerischen Mitteln noch mehr Inhalt aus der Musik schöpfen und ihr einen Zusammenhang geben.

Mai 2015; Xenia Bömcke (Kontrabass)

Musikstudenten besprechen eine muïetische Aufführung; Till B. (Mai 2015)


Inwiefern kann die Wahrnehmung der Bedeutung eines musikalischen Werkes
durch andere künstlerische Mittel unterstützt werden?

-i- Musik und Bedeutung

Man stelle sich folgende bekannte Situation vor: ein Musiker betritt die Bühne und spielt sein Konzert. Man selbst sitzt im Zuschauerraum und lauscht der Musik und nach ein, zwei Stunden ist alles vorbei. Applaus. Der Zuhörer ist nun vielleicht beschwingt, bewegt oder auch verstört von der Musik, doch bringt Musik, ihre Wahrnehmung und Darbietung nicht noch eine höhere Ebene von Bedeutung zur Geltung als emotionale Reaktionen? Und inwiefern kann die Wahrnehmung der Bedeutung eines musikalischen Werkes durch andere künstlerische Mittel unterstützt werden?

Musik ist eine Sprache, die man in der ganzen Welt versteht - diese Weisheit war schon den Komponisten des 18. Jahrhunderts bekannt. Doch um an die innere Substanz eines Werkes zu kommen, den eigentlichen Kern der Bedeutung, braucht es je nach Rezipienten und dessen soziokulturellem Umfeld auch andere künstlerische Impulse wie schon die amerikanische Musikwissenschaftlerin Jenefer Robinson erkannte. Geht man jedoch von der zentraleuropäischen Musikauffassung Ende des 19. Jahrhunderts aus, erkennt man schnell die unterschiedlichen Bereiche. So war um 1900 das Ideal der Musik, die aus sich selbst heraus absolut wirkt (= absolute Musik), von dem Musikkritiker Eduard Hanslick geprägt. Jedoch schon dieser hatte mit Richard Wagners Ästhetik eines in sich wirkenden Gesamtkunstwerkes, welches viele andere künstlerische Mittel wie Text und Theater beinhaltet, einen starken Gegenpart. Der Musikphilosoph Leonard Meyer fasste die unterschiedlichen Positionen der Ästhetik in seinem umfangreichen Buch Emotion and Meaning in Music
passend zusammen. Meyer nennt dabei zwei kontrastierende Dichotomien: Der Absolutist versus den Referentialisten, sowie der Formalist versus den Expressionist. Der Absolutist steht dabei ganz in der Tradition Hanslicks, für ihn liegt die Bedeutung der Musik gänzlich in ihrem eigenen Kontext - es braucht keiner weiteren Ebene. Der Referentialist erkennt jedoch in der Musik Zeichen zu einer außermusikalischen Welt aus Charakteren und Emotionen. Bei dem zweiten Paar verhält es sich ähnlich, der Formalist sieht die Bedeutung im Wahrnehmen und Verstehen der musikalischen Verhältnisse in der dargelegten Kunst. Der Expressionist währenddessen erkennt in denselben Verhältnissen Auslöser für Emotionen und Gefühle, also eben keine intellektuelle Ebene. Nach Meyer ist die beste Position ein Kompromiss aus jeweils beidem: die Wahrnehmung von Musik ist sowohl intellektuell als auch emotional. Die Wahrnehmung der Musik kann jedoch um deren Bedeutung willen verstärkt werden, z.B. mit anderen künstlerischen Mittel.

Ein Konzept in dieser Richtung ist das Muietische Konzert. Hierbei wird die eine verstärkte Wahrnehmungsreifung bei dem Ausübenden und dem Musikempfangenden erzielt, wie die muietische Künstlerin Heloise Ph. Palmer in einem Interview erläutert. Indem Werke in einen neuen Kontext gestellt werden und damit thematisch neu verknüpft sind, lassen diese sich vom Wahrnehmenden sensibler und intensiver erfassen. So kommen hier auch Elemente aus Poesie, Malerei oder Theater zum Ausdruck und verhelfen dabei der Musik ihren Bedeutungsgrad besonderes hervorzustellen. Musik kann hier mehr als nur emotionale Reaktionen hervorrufen wie Freude, Trauer, Schmerz oder Liebe. Die Bedeutung der Musik fasst dabei auch in die Tiefen von philosophischen und politischen Betrachtungen wie etwa der nahe Osten.

-ii- zum Konzert: Sing, Vogel meiner Seele, sing!
von Heloise Ph. Palmer, 27. April 2015

Am 27. April 2015 gab die Pianistin und muietische Künstlerin Heloise Ph. Palmer im Kammermusiksaal der Musikhochschule  in Stuttgart einen muietischen Konzertabend zur Aufführung. Wie auch schon bei dem eindrucksvollen muietischen Programm „The Righteous Fatal“, welches im letzten Jahr am selben Ort aufgeführt wurde, hatte der Abend einen thematischen Überbegriff: Das Verhältnis Ägyptens und Israels, die im Konflikt stehenden Nachbarstaaten, wurde mit Klangeindrücken aus den jeweiligen Ländern dargestellt. Dabei war schnell zu erkennen, dass als formale Grundidee Bertold Brechts Theaterstück Der kaukasische Kreidekreis Pate stand. So beschreibt Heloise Ph. Palmer in ihrer der Musik angefügten Prosa zwei Mütter, welche sich um ein Kind (in diesem Falle Palästina) streiten. Der muietische Konzertabend selbst gleicht fast dem Aufbau eines klassischen Dramas, denn so ist ein klarer Aufbau zu einer Klimax, dem Klavierstück Midnight doesn’t BE (aus John Palmers Musica Reservata) zu erkennen. Danach ist wieder ein Sinken der inneren Spannung zu merken. Heloise Ph. Palmer erzählt mit ihrer Prosa dabei wie schon erwähnt die Geschichte zweier Mütter um ein Kind. Bevor die ersten Klaviertöne des Konzertes erklingen taucht sich der Saal erst in tiefes Dunkel. Die Künstlerin betritt die Bühne und schlägt ein Buch auf.

Nun wird der Text Vogel meiner Seele (Heloise Ph. Palmer) rezitiert, wobei die hervorragend artikulierende Stimme von Thomas Grießbach den perfekten erzählerischen Rahmen bietet. Es folgt Max Brods Klavierwerk „Galilée“, eine musikalische Rarität des sonst eher als Literat bekannten Intellektuellen. Die jugendliche Frische, das kindlich Naive werden in dem in spätromantischer Tradition komponierten Werk spürbar. Hier wird schon der besondere Reiz des muietischen Konzeptes deutlich: Durch die Prosa werden in dem Werk besondere Bedeutungsebenen beleuchtet, bzw. hervorgehoben ohne dabei sich als wertend oder wie eine vorgezogene Stellungnahme zu dem Stück an sich zu verstehen. Dies wurde auch in der Ge-sprächsrunde nach dem Konzert deutlich, in der Frau Palmer verdeutlichte, wie das muietische Konzept sowohl Rezipienten als auch  Interpreten erlaubt, auf eine tiefere Wahrnehmungsebene zu gelangen.

Der Konflikt der beiden Länder stellt sich schließlich in dramatischer Weise in ihrem Werk „Im Kreidekreis“ dar. Erst erklingen einzeln die Hymnen Ägyptens und Israels, welche sich schließlich mehr und mehr überlagern. Unterbrochen wird diese Musik von einem grellen Babylachen. Hier wirkt der Konflikt der Mütter spürbar nah, die Dichte der überlagernden Hymnen kreiert bei dem Zuhörer eine innere Bedrängnis. Das folgende Werk Midnight doesn’t BE
(John Palmer) ist der schon erwähnte Klimax des Konzertes. Es passt so genau in die Dramaturgie, da der beschriebene Punkt zwischen 24 und 0 Uhr nicht existiert, und genau so auch der Frieden zwischen den „Mutterstaaten“ nicht erreicht wird. Die unterschiedlichen Ideologien spielen sich gegeneinander aus. So wird die Botschaft der Künstlerin, welche hiermit der Musik auch klar eine politische Bedeutung zukommen lässt, wenn sie auf der Blockflöte das Lied „Ein Tännlein schlief zur Winternacht“ intoniert. Der Friede muss von den Menschen selbst geschaffen werden. Schumanns „Ge-sänge der Frühe“ steht am Ende. Ein Morgen ist wie eine Rekreation, alles scheint in ihm erreichbar zu sein.

Mai 2015; Till Breitkreutz (Viola)

Musikstudenten besprechen eine muïetische Aufführung; Niels P. (Mai 2015)


Inwiefern kann die Wahrnehmung der Bedeutung eines musikalischen Werkes
durch andere künstlerische Mittel unterstützt werden?

-i- Musik und Bedeutung

Auf die Frage, worin die Bedeutung der Musik zu finden sei, sind zwei kontrastierende Antworten denkbar, die musikästhetisch in der Dichotomie von absoluter Musik und Programmmusik in Erscheinung treten. Für den einen ist das Ideal, dass die Musik ihren eigenen Gesetzen gehorcht, frei von einer Bindung an außermusikalische Mittel oder Zwecke. Für ihn ist das höchste Wesen der Musik als eine „Reinheit“ (oder negativ ausgedrückt: „Isolierung“) aller extramusikalischen Inhalte zu verstehen. Für den anderen wird die Bedeutung durch die Bezugnahme auf ein Programm außerhalb der Musik selbst hergestellt.
Beziehen wir uns bei dieser Fragestellung nun auf den Hörer der Musik, so können wir, entlang der o.g. Unterteilung diejenigen, die beim Hören eine intellektuelle Bedeutung konstruieren von denen, für die Musik eine emotionale Bedeutung innehat, unterscheiden. Eine Bedeutung hat etwas, wenn es auf etwas verweist, das außerhalb seiner selbst steht. Die Bedeutung an sich liegt in genau diesem „Fingerzeig“. Entscheidend ist dabei nicht, ob das Werk für sich alleine gesehen auf etwas verweist, das innerhalb oder außerhalb des Werkes steht, also ob der Komponist einem absoluten oder einem „referentiellen“ Ideal verhaftet ist oder war, sondern vielmehr, ob der Hörer einen Bezug zum Gehörten herstellen kann, ob er sie für sich mit einer Bedeutung aufladen kann.
Tatsächlich kann dieses „bedeutungsschaffende Potential“ beim Zuhörer durch außermusikalische Stimuli (Licht, Atmosphäre, etc.), durch welche das Gehörte in einen neuen Kontext versetzt wird, erregt werden. Dadurch kann drei Irrtümern, die L. Meyer erwähnt, entgegengetreten werden, nämlich:

1. Dem Hedonismus, oder, plakativ formuliert, Musik ist nicht dazu da, dass wir uns schlicht sinnlich daran „ergötzen“. Der Einsatz außermusikalischer Mittel zwingt den Hörer zum aktiven Wahrnehmen (und verstehen) - er kann sich nicht einfach zurücklehnen und „bedudeln“ lassen.

2. Dem Atomismus. Musik ist niemals nur eine schlichte Aneinanderreihung einzelner Töne („Atome“), genauso wie ein Konzert niemals nur eine bloße Abfolgen einzelner Werke („Atome“) sein kann. Diese Notwendigkeit nach einem Gesamtverlauf kann durch Mittel, die außerhalb der Musik selbst liegen, hergestellt werden.

3. Dem Universalismus. Musik ist nicht universal, nicht gottgegeben, nicht ewig. Sie kann nicht allerorts zu jeder Zeit die gleiche sein. Setzt man zusätzlich zur Musik etwa Mittel ein, wie etwa das Einsprechen eines Textes oder eine andere Art der Inszenierung, so besteht die Möglichkeit, Musik in einen neuen Zusammenhang zu setzen, die einem Zuhörer der heutigen Zeit die Möglichkeit einräumt, sich seine Bedeutung zu schaffen. Dieser Vorgang, Musik von neuen Seiten her zu beleuchten, muss stets aufs Neue vollzogen werden, um der Gefahr zu entgehen, einem wie auch immer gearteten Universalismus zu verfallen.

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ii- Sing, Vogel meiner Seele, sing! von Heloise Ph. Palmer

Das muietische Programm „Sing, Vogel meiner Seele, sing!“ ist als ein Gesamtkunstwerk angelegt. Das zeigt sich schon daran, wie das Konzert begann: Die Pianistin kam auf die Bühne und trat an ein hell erleuchtetes Lesepult, wo sie ein Buch aufschlug, man steigt also in eine Geschichte ein. Musikalisch eröff-net wurde das Programm mit dem unbekannteren „Galilée“ vom vornehmlich als Schriftsteller bekannten Max Brod. Auch die nun nachfolgenden Komponisten sind eher unbekannt: Mohamed Saad Basha, Yehezkel Braun, Ramz Samy Sabry, Paul Ben-Haim. Diese Stücke wurden laut Auskunft der Pianistin vornehmlich deswegen gewählt, weil sie dem Publikum die Möglichkeit eröffnen, wirklich unbekannte Werke kennenzulernen.

Höhepunkt des Programms – im dramatischen Sinne – war Im Kreidekreis von H. Ph. Palmer. Es bestand aus der ägyptischen (in Dur) sowie der israelischen Nationalhymne (in Moll), die alternierend mit dem Lachen eines kleinen Kindes (= Palästina) gespielt wurden. Das Kind lacht, weil es sich in der Situation nicht anders zu helfen weiß.

Schließlich fand das Programm mit Robert Schumanns Gesänge der Frühe seinen (hoffnungsvollen) Abschluss. Nach Schumanns eigenen Worten seien diese Stücke solche, die „die Empfindung beim Herannahen und Wachsen des Morgens schildern“. Eine ähnliche Position nimmt das Werk im Programm ein: Es schließt es ab, doch mit der Gewissheit, dass ein neuer, friedlicher Morgen beginnt.

Mai 2015; Niels Pfeffer (Gitarre)

Musikstudenten besprechen eine muïetische Aufführung; Marcus C. (Mai 2015)


Sing, Vogel meiner Seele, sing! - Heloise Ph. Palmer 

Am Abend des 27. April ward den Studenten und Zuhörern im Kammermusiksaal der Musikhochschule Stuttgart ein ganz besonderes Konzerterlebnis zuteil: Die Pianistin und Künstlerin Heloise Ph. Palmer gab ein muïetisches Konzert, welches sich thematisch dem konfliktreichen Nahen Osten widmete und dabei besonders auf die Nachbarschaft der Staaten von Israel und Ägypten einging. Das Ringen um Frieden, den es auf das Tägliche zu erhalten gilt, die Unversehrtheit der menschlichen Seele, die rein und unschuldig in solche Konflikte geraten kann, die für uns unfassbaren Umstände dieses ganzen Komplexes: Heloise Ph. Palmer hat sie mit Musik, Texten und Bühnendarstellung höchst sensibel und intensiv gezeichnet.

Der Konzertsaal war für das ganze Konzert abgedunkelt und nur ein Scheinwerferlicht erhellte den Flügel und die Pianistin. Zur Rechten fand sich eine Leinwand, die zunächst einen Halbkreis, dann gegen Schluss einen vollen Kreis zeigte. Symbol für den Kreidekreis und dessen historische Implikatur. So wurde auch der Vogel in all seiner Bedeutung zum übergeordneten Leitmotiv des Abends. Der Vogel und die Seele, die so einfach ihre Flügel strecken und - um es mit Eichendorff zu sagen - am Ende den seligen Wunsch eines Zuhauses finden können. Der Flügel war gewissermaßen auch optisch zu erleben und zu begreifen, es war das Instrument, das beide Länder und beide Kulturen einte, indem es beider Musik gleichermaßen zu Gehör brachte. So wurden denn abwechselnd Stücke israelischer und ägyptischer Komponisten gespielt, und von Texten (Heloise Ph. Palmer), welche zugespielt wurden, komplettiert.

Dabei versicherte die Pianistin, dass die Auswahl keinesfalls leicht fiel. Es finden sich in der Tat Stücke von höchst unterschiedlicher Qualität unter der Zusammenstellung. Dennoch war auch dies ein interessanter Punkt, zeige er doch den von ihr bemängelten Anachronismus auf und verdeutliche damit den zum Geleit gegebenen Impuls “wie wichtig es ist, sich nicht mit der Vergangenheit zu blenden, sondern im Jetzt zu handeln.
So war auch eine sehr kontrastreiche Zusammenstellung von Werken zu erleben, von sehr impulsiven Stücken wie Sabrys “Moderato & Allegro”, welches dem “Kind” als weiteres Motiv des Abends durch teils spielerische Rhythmen und gesanglichen Klängen eine weitere Stimme gab, obwohl es doch kaum zu sprechen im Stande scheint, bis hin zu sehr fein gezeichneten und ruhigen Momenten, wie sie in John Palmers “Midnight doesn’t BE” zum Ausdruck kamen. Mit Schumann endete das Programm und seine “Gesänge der Frühe” wirkten nach diesem Konzert wahrlich wie ein sehnender und appellierender Ruf nach Frieden und Unversehrtheit, nach Achtsamkeit und einem aufrichtigen und respektvollen Umgang miteinander.

Heloise Ph. Palmers Konzept zu einer neuen Klangwahrnehmung und einem erneuerten Zugang zu klassischen Konzerten stellt damit tatsächlich eine weitere mögliche Form der Konzertrezeption dar.

Mai 2015; Marcus C. (Komposition)

Musikstudenten besprechen eine muïetische Aufführung; Lea R. (Mai 2015)


Inwiefern kann die Wahrnehmung der Bedeutung eines musikalischen Werkes
durch andere künstlerische Mittel unterstützt werden?

Das Wunderbare an Musik ist, dass sie keine Grenzen kennt. Sie ist eine Sprache, die alle Menschen verstehen und ihre Bedeutung ist somit extrem groß. Es entsteht eine Plattform, die für alle Menschen zugänglich ist und nicht zwingend mit Worten erklärt werden muss. Die Musik ist eine der ältesten Kunstformen, um Emotionen auszudrücken, Traditionen zu bewahren und weiterzugeben und Menschen zu verbinden. [...]
Musik kann eine Vielzahl an Bedeutungen haben: emotionale, ästhetische und rein intellektuelle (L. Meyer; Emotion and Meaning). Außerdem kann sie zwar von allen Menschen rezipiert werden, jedoch hat die Musik in unterschiedlichen Kulturen einen unterschiedlichen Stellenwert und entspringt anderen Traditionen. Die Bedeutung der Musik kann somit subjektiv für verschiedene Menschen variieren. [...]
Die Bedeutung gehörter Musik variiert subjektiv auch auf der Ebene der Emotionen. Musik kann verschiedene emotionale Reaktionen hervorbringen, die wiederum von kulturellen und erlernten Faktoren abhängen können. Emotionale Reaktionen treten sowohl bewusst als auch unbewusst auf. Oftmals resultieren sie auch aus einer Kette an Reaktionen auf die Musik. Die Musik bringt Erwartungen im Hörer hervor - je nachdem, ob diese erfüllt werden oder nicht, treten Reaktionen auf. Somit kann auch die Bedeutung individuell von persönlichen Erwartungen an die  Musik für jeden Menschen variieren. [...]
Die Bedeutung ist somit ein Resultat aus einem Prozess der Impulse der Musik und den Erwartungen des Zuhörers. Auch die früheren Erfahrungen des Hörers tragen zu diesem Prozess bei. Der Hörer nimmt die Musik auf, Erwartungen entstehen und in Kombination mit schon vorangegangenen musikalischen Erfahrungen entsteht eine neue Erfahrung und der Zuhörer entdeckt die Bedeutung der gehörten Musik. [...]
Die Bedeutung wird vor allem übertragen durch den kommunikativen Prozess zwischen Künstler und Zuhörer. Zu einem gewissen Anteil müssen wir als Zuhörer den kreativen Prozess nachvollziehen, um die Bedeutung eines Werkes voll zu erfassen (L. Meyer; ibid.).

Doch kann man die Bedeutung eines Stückes wirklich vollkommen erfassen durch diesen theoretischen Ansatz?
Heloise Ph. Palmer ist eine britische Pianistin, Künstlerin und Autorin, die eine Alternative zu der „normalen“ Konzertpraxis kreiert hat. Muïesis ist eine neue Art der Musikrezeption: Die Stücke werden bei einem Konzert ganzheitlich gesehen und in einen Themenzusammenhang gestellt. So soll die Wahrnehmung für den Zuhörer erleichtert werden. Bei muïetischen Konzerten existiert ein Leitgedanke, der sich durch die Programmauswahl zieht. Zusätzlich zu den musikalischen Werken werden sogenannte „Externa“ ergänzend hinzugezogen. Sie unterstützen dabei, die Wahrnehmung der Bedeutung und die Leitidee für den Zuhörer zugänglich zu machen. Sowohl der Hörer als auch die Interpretin sind in dem Prozess der Reflexion und Wahrnehmung eingebunden. [...]
Die gehörte Musik soll umfassend empfunden werden – ihre Bedeutung soll im Zusammenhang erfasst werden und nicht nur – wie gängig – durch eine theoretische Konzerteinführung. [...]
In einem Gespräch (J. Palmer; Conversations) betont Heloise Ph. Palmer, dass sie die Verbindung der verschiedenen künstlerischen Mittel für eminent wichtig hält, da sie einander unterstützen. Ihr Konzept steht für kontextuelle musikalische Events, die einen kompletten Kontrast zur gängigen Konzertpraxis darstellen. Sie möchte die Sinne der Zuhörer und ihre Aufmerksamkeit durch die Form des Konzerts schärfen.

Mai 2015; Lea Ray (Flöte)

Musikstudenten besprechen eine muïetische Aufführung; Jonas I. (Mai 2015)


Inwiefern kann die Wahrnehmung der Bedeutung eines musikalischen Werkes
durch andere künstlerische Mittel unterstützt werden?


-i- Musik und Bedeutung

Der Sinn der Musik besteht nicht nur darin, die Menschen zu unterhalten. Es passiert viel mehr, wenn wir Menschen Musik hören, beispielsweise löst sie durch die Aktivierung bestimmter Strukturen im Gehirn Emotionen in uns aus. Bei diversen Tests und Experimenten stellte man fest, dass beim Hören bestimmter Musik das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet wird. Deshalb kommt es zu körperlichen Reaktionen, die sich messen lassen, wie zum Beispiel unter anderem sogar eine Erhöhung der Körpertemperatur. [...] Die „Zeit“ beschreibt es folgendermaßen:
„ Warum berühren uns bestimmte Melodien und Harmonien, während uns andere kaltlassen? Musik, so zeigt sich, wirkt auf allen Ebenen des Gehirns, sie hat einen direkten Zugang zu Emotionen und ist tief verankert in der Menschheitsgeschichte. Entstanden in wundersamer Co-Evolution, hilft Musik dabei, uns in einer vornehmlich von Sprache und Verstand geprägten Welt mit uralten emotionalen Bedürfnissen zu versöhnen.“[1]
Jeder hat eine subjektive Wahrnehmung eines Klanges. Das bewusste Wahrnehmen ist somit auch in der Musik von Mensch zu Mensch in minimalen Bereichen unterschiedlich. [...] Die Wissenschaft, welche die Beziehungen zwischen den physikalischen Schallwellen der Musik und deren Interpretationen durch den Menschen untersucht, ist die Psychoakustik. Das Zuhören wird als komplexe psychologische Gegebenheit beschrieben. Klänge in der Musik werden unterschiedlich neurologisch wahrgenommen, denn jedes Element wird in den Details anders interpretiert. Diese Elemente der Psychoakustik müssen in einem Zusammenhang wahrgenommen werden, um die Musik als Ganzes zu erleben. Alles muss als Gesamtwerk betrachtet und gehört werden, um letztendlich eine kognitive Erkenntnis zu erlangen.

Zu dieser Ebene des Hörens kommt nun auch die visuelle Ebene hinzu. Man nimmt nicht nur Klänge wahr, sondern man hat die Möglichkeit, andere künstlerische Darstellungsformen parallel zur Musik zu betrachten. Man kann sich vorstellen, dass man mithilfe eines Textes, beispielsweise eines Gedichtes, ein noch tieferes Verständnis erlangt. Wörter können der Grundidee der Musik eine noch höhere Intensität an Ausdruck verleihen. Des Weiteren kann ein gemaltes Bild, beziehungsweise eine Bildergalerie zusätzlich zu der Musik eine noch größere „Geschichte“ erzählen. Der Konzertbesucher erhält eine viel bessere Vorstellung und Idee, was der Interpret des Werkes ausdrücken möchte. Andere künstlerische Mittel auf der Bühne können eine ganz neu Atmosphäre schaffen und beeinflussen das Hörerlebnis der Konzertbesucher. Als Zuhörer, beziehungsweise in diesem Fall auch Zuschauer ist es aufgrund des Visuellen viel leichter, das Verständnis und die Bedeutung der Musik zu erlangen. Außerdem kann man durch das Einsetzen von Lichttechnik und auch Computerprogrammen noch mehr an Ausdruckskraft dazugewinnen. Einzelne Passagen beziehungsweise Stellen können somit durch bestimmte Effekte hervorgehoben werden.

U.a. mit dieser anderen Form der Konzertpraxis beschäftigt sich „Muiesis“. Das vorgestellte Werk wird nicht entfremdet, das heißt, die Grundidee der Musik bleibt bestehen. Die ursprüngliche Instrumentation wird nicht geändert, die Kompositionen werden lediglich in einen neuen Zusammenhang gestellt. Gerne werden andere Ausdrucksformen, wie Kunst, sowohl darstellende als auch bildende Kunst und literarische Formen verwendet. [2] Die muietische Aufführungspraxis weist durchaus Verwandtschaft mit den Aufführungen Karlheinz Stockhausens auf. Auch er nutzte theatralische Mittel, um die Musik lebendig zu erhalten. Durch den Einsatz anderer künstlerischer Stilmittel hat die Musik eine andere und noch intensivere Wirkung.

Die Synthese von Musik und anderen künstlerischen Formen ist eine völlig neue Konzerterfahrung [für mich]. Viele Konzertbesucher haben keine musikalische Ausbildung und gerade für solch eine Zielgruppe ist es viel leichter die Essenz des musikalischen Werkes leichter und besser zu verstehen. Des Weiteren erleichtert die konzeptionelle Wechselwirkung und Verbindung verschiedener Künste das Verständnis von Musik. Jeder Konzertbesucher hört individuell und jeder erschließt sich aus seinen Erkenntnissen einen anderen Kontext.
„Mehr als die anderen Künste ist die Musik eine gesellige Kunst, die den Menschen zu friedlichem, harmonischem Tun vereinigt und die beengenden Schranken beiseite wirft, die oft im Leben bestehen. Goethe sagte einmal, heilig ist, was viele Seelen verbindet; diese Wirkung besitze die Musik in hohem Grade. Ihre Macht, das Getrennte zu vereinigen und zu versöhnen, überwindet selbst die Schranken der Völker und Staaten. Aber nicht nur die Ausführenden, auch die Zuhörer vereinigt die Musik oft in wunderbarer Weise.“[3]

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ii- Sing, Vogel meiner Seele, sing! von Heloise Ph. Palmer

Das Konzert „Sing, Vogel meiner Seele, Sing!“ von Heloise Palmer beinhaltet kein gewöhnliches Konzert-programm. Es ist ein Beispiel für die muietische Aufführungspraxis. Andere künstlerische Mittel werden mit in die Musik einbezogen, um dem Zuhörer ein besseres Verständnis der Musik zu ermöglichen.
Thema dieses Programmes ist der jahrhundertealte Palästinakonflikt, welcher heute immer noch sehr aktuell ist. Das Land Palästina, welches symbolisch als Kind dargestellt ist, befindet sich im Konflikt der Zugehörigkeit und Unabhängigkeit. Die Geschichte spielt vor der Kulisse des Nahen Ostens, dort wo Hass, Gewalt und Krieg die Gesellschaft prägen.

Das Konzert beginnt mit einer Einleitung des Erzählers mit den Worten „Es war einmal ein Kind...“ Gleich zu Beginn merkt der Zuhörer, dass dieses Konzert von der heutigen gängigen Konzertpraxis abweicht. Die Künstlerin wählte bewusst Stücke aus, um die Emotionen auch auf den Zuhörer zu übertragen. Der sich aufbauende Streit beziehungsweise die Reibung der beiden Länder, Ägypten und Israel lässt sich auch in der Musik auffinden. Die Spannung und Emotionen laden sich immer weiter auf. Mittendrin in dieser Auseinandersetzung befindet sich Palästina. Dieser „Zank“ der beiden Mütter um die Mutterschaft, wird durch einen Kreidehalbkreis, welcher auf die Leinwand projiziert wird, auch visuell verdeutlicht. Nach ei-nem weiteren sehr spannungsgeladenen Klavierstück ergänz sich der Kreidekreis zu einem Ganzkreis. Diese Anschauung regt den Zuhörer, beziehungsweise in diesem Fall auch Zuschauer zum Nachdenken und Auseinandersetzen an. Die Mitte dieses Kreises stellt das traumatisierte Kind „Palästina“ dar, welches enorm darunter leidet, der Mittelpunkt dieses Streits zu sein.
Natürlich wird auch musikalisch mit sehr vielen Mitteln gearbeitet. Immer wieder tauchen ähnlich klingende Motive auf, welche das Kämpfen der beiden Mütter darstellen. Dieser Konflikt lässt sich unter anderem auch auf die heutige Zeit übertragen. In den kleinen alltäglichen „Kriegen“, so Heloise Palmer, komme es meist nicht zu einer Annäherung, sondern zu einer Verdrängung der Menschen.

Den Höhepunkt des muietischen Abends bilden die beiden Nationalhymnen, die als Audiodatei über die Lautsprecher abgespielt werden. Am Anfang laufen die Hymnen geordnet und klar voneinander getrennt ab, dann aber vermischen sich nach einiger Zeit und werden immer wieder durch ein Kinderlachen unterbrochen. Der Spannungsbogen wird bis zum Stück John Palmers „Midnight doesn’t BE“ aufrechterhalten. Auch diese Komposition spielt mit dem klanglichen Raum des Klaviers. Durch geschickt gewählte Effekte und Techniken der Pianistin, werden dem Zuhörer völlig neue Klänge offenbart. Außerdem kann man dieses Werk auch als eine Art Wendepunkt der Gestaltung des Programms sehen.

Neben dem Einsatz des Klaviers, wurden auch das Toy Piano, beziehungsweise die Blockflöte benutzt, um in die Gefühlswelt des Kindes einzutauchen. Durch das verwenden mehrerer unterschiedlicher Instrumente werden die Emotionen der Charaktere dem Zuhörer viel besser vermittelt. Sogar der Schellenkranz, welcher parallel zum Pedal positioniert wurde und gleichzeitig während des Klavierspiels von der Künstlerin betätigt wird, führt zu einer viel intensiveren Wahrnehmung des Zuhörers. Man setzt sich mit dem Gehörten auseinander, weil man mehrere Eindrücke und Klänge auf einmal, also zeitgleich wahrnehmen kann.
Auf der visuellen Ebene war darüber hinaus ein gezielter Einsatz der Scheinwerfer festzustellen. Das Dimmen und Erhellen des Lichtes diente ebenfalls dazu, den Höreindruck zu erweitern und ergänzen. Zusätzlich zu dem Text „Vogel meiner Seele“ (Heloise Ph. Palmer) sah man als Konzertbesucher außerdem das Bild einer Frau, welche mit einem Regenschirm unter einem Torbogen ins Weite schaut. Ihre Blicke schweifen in das Neue und Unentdeckte. Dieses Bild zusammen mit den Worten „... das Kind soll in Freiheit fliegen...“  beschreibt die Situation Palästinas sehr treffend: Palästina soll in Zukunft den neuen und freien Weg nehmen und sich aus den Mängeln Ägyptens und Israels befreien. Den Konzertabschluss passend dazu, machte das Klavierstück „Vogel als Prophet“ von Robert Schumann.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Musik, durch Ergänzung anderer extramusikalische Mittel, und sei es nur ein kleines schwarzes Tuch, welches über das Toy Piano gelegt wurde, für den Zuhörer eingängiger und leichter zu verstehen ist. Als Zuhörer hat man immer etwas zu verfolgen, man erkennt immer etwas Neues, worüber man sich Gedanken machen kann, was man interpretieren kann. Die Synthese von visueller und hörbarer Ebene beschert, auch einem Musiklaien, ein ganz anderes Hörerlebnis, als ein klassisches Klavierkonzert. Das Visuelle hilft uns, ein besseres Verständnis der Geschichte und einen noch größeren Zusammenhang des Werkes zu erlangen.

Mai 2015; Jonas Imkampe (Fagott)




[3] Auszüge aus: A. Speidel, „Die Bedeutung der Musik im Leben eines Menschen“,  Juni 1951.

Musikstudenten besprechen eine muïetische Aufführung; Jialin L. (Mai 2015)


Das Konzert hatte die Wahrnehmung der Hörer als absoluten Schwerpunkt: Alle musikalischen und außermusikalischen Mittel verliefen in eine gemeinsame Richtung und verfolgten die Absicht, eine stärkere Resonanz beim Publikum zu reizen. Es unterschied sich schon sehr weit von anderen traditionellen Konzerten, sowie auch von reinen Multimedia-Konzerten, deren Ausgangspunkt häufig relativ akademisch, ausdruckslos oder sehr dogmatisch ist.

Mai 2015; Jialin Liu (Komposition)