4. Wie
zeitgemäß ist Muïesis? In welchem Maße findet die Neue Musik Eingang?
Seit 2007 biete ich muïetische Konzertprogramme an und erlebe ohne Ausnahme, daß die vermeintlich am schwierigsten zugänglichen Werke (Neue Musik) die Zuhörer am tiefsten berühren. Sie teilen sich mit und beschreiben, was sie während des Hörens dieser Werke erlebt hatten. Das kann kein Zufall sein! Auch hier ist es wieder die Art der Vermittlung, die den Menschen Neuem gegenüber öffnet. Über die Dauer von drei Konzertreihen zu je sechs bis sieben verschiedenen Programmen war ich mit der Stiftung der Saalesparkasse das Wagnis eingegangen, Menschen mit Kunst und Musik in ihrer gewohnten Umgebung zu konfrontieren – das waren seinerzeit Bankfilialen –, anstatt sie in einen Konzertsaal einzuladen, wohin viele Besucher aufgrund von Berührungsängsten nicht gegangen wären. So hatte ich immer wieder vor einem „unbelasteten“ Publikum gespielt. Es haben über vier Jahre hinweg (2009 – 13) 20 verschiedene Bühnenprogramme in solchen Filialen in Sachsen-Anhalt stattgefunden. Dabei kam es zu etwa 20 Uraufführungen. Die Konzerte waren beinahe stets ausverkauft und es bildete sich bald ein Stammpublikum. Auch dies stärkt meine Überzeugung, daß muïetische Programme von enormer Kraft sind.
Ich sehe aber auch, dies in der Hauptsache als Konzertbesucherin, etwas anderes sich sehr deutlich abzeichnen: Musik verliert Zuhörer, wo sie sich in Nischen zurückzieht. Wir ausübenden Musiker haben die Pflicht, den Konzertbesucher auf den aktuellen Stand zu bringen. Die altbewährten Kompositionen fortweg zu wiederholen heißt, den Blick stets ins Vergangene zu richten. Das mag für das Individuum billig sein, für den in der Öffentlichkeit wirkenden Menschen ist es dies keineswegs! Dieser hat die Verantwortung inne, seine Zuhörer nicht im Untrüben zu lassen über das, was sich heutzutage in der Musik abspielt. Er muß deshalb nicht alles mögen, was heute produziert wird. Es gibt ja gottlob ausreichend Stile und weitaus mehr Komponisten, aus denen er wählen kann. Sich dem Aktuellen gänzlich zu verschließen, ist meines Erachtens ein Mißbrauch dieser Verantwortung. Wie dem auch sei, ausschließlich Musik unserer Zeit zu spielen halte ich für ebenso unklug. Zunächst aus dem einfachen Grund, da die Zuhörerzahl für reine Zeitgenössische Musikkonzerte noch geringer ist als die klassischer Konzertveranstaltungen. Es sind Aficionados mit Vorbildung, deren Kreis zwangsläufig begrenzt bleiben muß. [...]
Meiner Ansicht nach, die von einigen Jahren Praxiserfahrung untermauert ist, funktioniert die Kombination der verschiedenen Stile am besten, sofern richtig eingeführt. Nicht nur, daß der Besucher klassischer Konzerte, der ansonsten für Neue Musik vielleicht nichts als taube Ohren übrig gehabt hätte, plötzlich erkennt, daß diese neuen Klänge unmittelbare und unausweichliche Konsequenz der Musikgeschichte, wie sie sich über die Jahre hin entwickelt hat, sind, er wird umgekehrt auch für die traditionellen Werke ein anderes Hören entwickeln. Es ist also befruchtend für beide Seiten und am meisten für den Musikempfänger. [...]
Vor einigen Jahren habe ich ein schönes und sehr bezeichnendes Erlebnis gehabt: Ich war für ein Konzert engagiert worden, das Musik von Mozart und höchstens seinen Zeitgenossen vorstellen sollte. Im letzten Moment hatte ich mich entschlossen, ein Werk von 1992 unterzuschieben und hatte es, auf die Gefahr hin, daß Menschen den Saal wieder verlassen wollen, im Programm recht zentral platziert. Empörtes Fortlaufen war nicht mehr nötig, denn nach dem Werk kam ja wieder der geliebte Mozart. Aber, was für ein Wunder, waren die mir anschließend mitgeteilten Meinungen und Empfindungen ganz gegenteiliger Art: es sei „die Krönung des Konzertes“ gewesen, das „Eigentliche des Abends“, der Moment, von dem ausgehend „der Rest Sinn ergab“. Durchweg positive Reaktionen. Für mich ein Grund mehr, Ghettoisierung ausgewählter Stile zu vermeiden.
Ein weiteres Argument ist der pluralistische Zeitgeist selbst. Wie sinnleer wäre es, immer nur Spaghetti zu essen. Jeden Tag. Sieben Tage die Woche. Und niemals Reis. Oder Kartoffeln?
Warum also immer dieselben Kompositionen hören, denselben Stil, Konzert über Konzert? Wie oft kann man ein und denselben Film wieder und wieder sehen? Gut, die Interpretation verschiedener Musiker macht es stets neue Erlebnisse. Dennoch, der Mensch führt ein pluralistisches Leben und wählt in allen möglichen Bereichen Veränderung. Warum soll das im klassischen Konzertgeschehen anders sein? Da muß man ihm die verschiedenen Stile anbieten, genauso wie ihm die Kaufhalle verschiedene Zutaten offeriert. [...]