Inwiefern
kann die Wahrnehmung der Bedeutung eines musikalischen Werkes
durch andere
künstlerische Mittel unterstützt werden?
-I- allgemeine Betrachtung
Dem Künstler, also- in
unserem Fall- dem Musiker ist es stets selbst überlassen, wie er seine Musik,
die Interpretation dieser und die Bedeutung, die er ihr gibt, seinem Publikum
nahe bringen möchte. Normalerweise entscheidet er sich allein für die Musik
und möchte seine Zuhörer mit nichts Übrigem vom Eigentlichen ablenken. Das
heißt, er ist klassisch schwarz angezogen, er geht ruhig auf die Bühne, auf
welc-her er seine Interpretation des Musikstückes am Instrument präsentiert, er
verbeugt sich, und verschwindet wieder. Damit hat er die Musik so
ausschließlich präsentiert, dass der Zuhörer, der also hauptsächlich
akustische, musikalische Eindrücke erfahren hat, eben solche in seinen eigenen,
ihm logisch erscheinenden oder emtional verständlichen Zusammenhang stellt.
So wäre es auch zu einem großen Prozentsatz dem Publikum überlassen, der Musik
eine Bedeutung zu geben. Während der Musiker auf der Bühne also ein Musikstück
wie oben genannt präsentiert, stellt sich Zuhörer A das sonnige Panorama einer
Bergwanderung vor, das Stück löst in Zuhörer B Langeweile und Unverständnis
aus, wobei Zuschauer C es doch mit seiner verstorbenen Großtante verbindet,
die es Tag und Nacht hörte.
Die Alternative zu
beschriebener Aufführungspraxis ist das Erschaffen eines Gesamtkunstwerkes, indem man die Musik in einen bestimmten Zusammenhang
stellt, der durch andere künstlerische Mittel unterstrichen und ergänzt wird.
So hat der Musiker- oder dann der Künstler- die Möglichkeit, dem Publikum ein
umfassendes Bild seiner Vorstellung zu verschaffen, indem er beispielsweise
Poesie, Epik oder Darstellen-de Kunst einbezieht, und damit nicht
ausschließlich den Hörsinn seines Publikums beschäftigt. Jetzt wird also die
Auffassung der Musik nicht festgelegt, aber in eine bestimmte Richtung gelenkt,
was den Zuhörern, die vielleicht eigentlich wenig mit dem Stück anfangen
können, ermöglicht, dieses durch zusätzliche visuelle oder sprachliche
Eindrücke einzuordnen oder zu verstehen. Erfahrenen Zuhörern (z.B. guten
Musikern) kann dieses Gesamtkunstwerk, wenn es denn eins ist und nicht eine wilde, ungeordnete
Zusammenstellung verschiedener Künste, ein anderes, eventuell neues und
aufmerksameres Hören näher brin-gen.
Das Risiko oder die
Herausforderung für den Künstler auf der Bühne ist allerdings hier ein(e) viel
größere(s). Dadurch, dass er diesen roten Faden seines Gesamtkunstwerkes festlegt, hat er interpretatorisch viel mehr
Angriffsfläche als jemand, der nur die Musik präsentiert. Da die Bedeutung und
Wahrnehmung von Musik und Kunst noch viel subjektiver ist, als das bloße Hören
von Klängen, kann die Gefahr sein, dass das Publikum das Werk des Musikers
nicht nachvollziehen kann, den Zusammenhang zwischen Musik und dem Übrigen
nicht versteht oder es als starke Ablenkung empfindet und sich in seiner
Wahrnehmung zu beeinflusst oder sogar bevormundet fühlt.
-II- zum Konzert von
Heloise Ph. Palmer
Der Besuch des Konzertes
der Pianistin Heloise Ph. Palmer schuf neue Erkenntnisse über die beschriebene
Aufführungspraxis. H. Palmer prägt schon lange eine bestimmte Form von
musikalischem Gesamtkunstwerk,
welches unter dem Namen 'muiesis' (musik, gr.: poiesis) bekannt ist. „Sing,
Vogel meiner Seele, sing!“ unter dem Thema Frieden ist ein Konzert neben
anderen Konzerten zu verschiedenen Themen in der Muiesis-Reihe.
Das weit über das
Musikalische hinausgehende Konzert beginnt mit dem stillen Auftritt von H.
Palmer, die sich an ein Rednerpult, das sich neben einem Flügel, einer Leinwand
und einem Toy Piano auf der Bühne befindet, stellt. Entgegen aller Erwartung
hört das Publikum eine eingespielte Männerstimme, die anfängt, die Geschichte
vom Kind im Kreidekreis (vgl: 'der kaukasische Kreidekreis', B. Brecht), formuliert von der Künstlerin, zu
erzählen. Dazu werden jeweils ein paar Worte des Gesagten an die Leinwand
geworfen. Die Musikerin geht ans Klavier und spielt Werke von israelischen und
ägyptischen Komponisten, da es ihr, wie wir später erfahren, besonders um
diesen Krieg geht, wobei sie Palästina mit dem Kind in der Mitte des
Kreidekreises verbindet. Auf der Leinwand sieht man im Laufe des Konzerts
zuerst einen halben, dann einen ganzen weißen Kreis, die Künstlerin spielt
außerdem Blockflöte und Toy Piano. Desweiteren verwendet H. Palmer für ihren
muietischen Auftritt digital gemischte Musikfragmente, die über einen
Lautsprecher eingespielt werden.
Diese völlig andere Herangehensweise an die
Musik schafft eine neue Atmosphäre, fast wie in einem Film, wodurch man das
Gefühl hat, sich fallen lassen zu können und sich auf weitere, andere
Bedeutungen der Musik einzulassen. H. Palmer sagt, in ihren Aufführungen soll
die Musik auf keinen Fall nur als Mittel oder als Umspielung des Zwecks und der
sachlichen Aussage wahrgenommen werden. Sie fühlt sich als Musikerin und schafft
es, durch ihre Musik dem Hörer Dinge mit auf den Weg zu geben, die man bei
einem klassisch aufgeführten Konzert nicht erfahren würde.
Ein einfaches Beispiel
dafür ist ihre Improvisation am Klavier über beide Frauen, die an dem Kind
zerren. Ohne diesen Zusammenhang von Musik und ihrer Bedeutung und der damit
verbundenen bildlichen Vorstellung in den Köpfen der Zuhörer wäre die Aussage
dieses Stückes nicht voll ausgeschöpft. In diesem Konzert erfuhr man also eine
Wechselwirkung, in welcher einerseits die sachlichen Inhalte durch die Musik
veranschaulicht und verstärkt werden und andererseits vervollständigt der
Zusammenhang auch die Musik und gibt ihr Bedeutung. Die Musikerin möchte ihr
Publikum zum genaueren, aufmerksameren Zuhören bewegen, um sie damit auch an
modernere, unbekannte Musik heranzuführen. Das schafft sie beispielsweise,
indem sie den Höhepunkt des Konzertes besonders hervorhebt, weil sie ihre Musik
durch einen Lautsprecher erklingen lässt, anstatt sie wie bisher, live zu
spielen. Der Zuhörer wird von dem ungewöhnlichen Mittel wieder aus seinen
alten Gedanken gerissen und versucht hinter dem neuen Medium einen Sinn zu
entdecken, er hört also wahrscheinlich wacher zu als bei einem klassischen
Klavierrezital, bei dem auch das Klangmedium festgelegt ist.
Mai 2015; Xenia Bömcke (Kontrabass)