Friday, 3 July 2015

Musikstudenten besprechen eine muïetische Aufführung; Jonas I. (Mai 2015)


Inwiefern kann die Wahrnehmung der Bedeutung eines musikalischen Werkes
durch andere künstlerische Mittel unterstützt werden?


-i- Musik und Bedeutung

Der Sinn der Musik besteht nicht nur darin, die Menschen zu unterhalten. Es passiert viel mehr, wenn wir Menschen Musik hören, beispielsweise löst sie durch die Aktivierung bestimmter Strukturen im Gehirn Emotionen in uns aus. Bei diversen Tests und Experimenten stellte man fest, dass beim Hören bestimmter Musik das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet wird. Deshalb kommt es zu körperlichen Reaktionen, die sich messen lassen, wie zum Beispiel unter anderem sogar eine Erhöhung der Körpertemperatur. [...] Die „Zeit“ beschreibt es folgendermaßen:
„ Warum berühren uns bestimmte Melodien und Harmonien, während uns andere kaltlassen? Musik, so zeigt sich, wirkt auf allen Ebenen des Gehirns, sie hat einen direkten Zugang zu Emotionen und ist tief verankert in der Menschheitsgeschichte. Entstanden in wundersamer Co-Evolution, hilft Musik dabei, uns in einer vornehmlich von Sprache und Verstand geprägten Welt mit uralten emotionalen Bedürfnissen zu versöhnen.“[1]
Jeder hat eine subjektive Wahrnehmung eines Klanges. Das bewusste Wahrnehmen ist somit auch in der Musik von Mensch zu Mensch in minimalen Bereichen unterschiedlich. [...] Die Wissenschaft, welche die Beziehungen zwischen den physikalischen Schallwellen der Musik und deren Interpretationen durch den Menschen untersucht, ist die Psychoakustik. Das Zuhören wird als komplexe psychologische Gegebenheit beschrieben. Klänge in der Musik werden unterschiedlich neurologisch wahrgenommen, denn jedes Element wird in den Details anders interpretiert. Diese Elemente der Psychoakustik müssen in einem Zusammenhang wahrgenommen werden, um die Musik als Ganzes zu erleben. Alles muss als Gesamtwerk betrachtet und gehört werden, um letztendlich eine kognitive Erkenntnis zu erlangen.

Zu dieser Ebene des Hörens kommt nun auch die visuelle Ebene hinzu. Man nimmt nicht nur Klänge wahr, sondern man hat die Möglichkeit, andere künstlerische Darstellungsformen parallel zur Musik zu betrachten. Man kann sich vorstellen, dass man mithilfe eines Textes, beispielsweise eines Gedichtes, ein noch tieferes Verständnis erlangt. Wörter können der Grundidee der Musik eine noch höhere Intensität an Ausdruck verleihen. Des Weiteren kann ein gemaltes Bild, beziehungsweise eine Bildergalerie zusätzlich zu der Musik eine noch größere „Geschichte“ erzählen. Der Konzertbesucher erhält eine viel bessere Vorstellung und Idee, was der Interpret des Werkes ausdrücken möchte. Andere künstlerische Mittel auf der Bühne können eine ganz neu Atmosphäre schaffen und beeinflussen das Hörerlebnis der Konzertbesucher. Als Zuhörer, beziehungsweise in diesem Fall auch Zuschauer ist es aufgrund des Visuellen viel leichter, das Verständnis und die Bedeutung der Musik zu erlangen. Außerdem kann man durch das Einsetzen von Lichttechnik und auch Computerprogrammen noch mehr an Ausdruckskraft dazugewinnen. Einzelne Passagen beziehungsweise Stellen können somit durch bestimmte Effekte hervorgehoben werden.

U.a. mit dieser anderen Form der Konzertpraxis beschäftigt sich „Muiesis“. Das vorgestellte Werk wird nicht entfremdet, das heißt, die Grundidee der Musik bleibt bestehen. Die ursprüngliche Instrumentation wird nicht geändert, die Kompositionen werden lediglich in einen neuen Zusammenhang gestellt. Gerne werden andere Ausdrucksformen, wie Kunst, sowohl darstellende als auch bildende Kunst und literarische Formen verwendet. [2] Die muietische Aufführungspraxis weist durchaus Verwandtschaft mit den Aufführungen Karlheinz Stockhausens auf. Auch er nutzte theatralische Mittel, um die Musik lebendig zu erhalten. Durch den Einsatz anderer künstlerischer Stilmittel hat die Musik eine andere und noch intensivere Wirkung.

Die Synthese von Musik und anderen künstlerischen Formen ist eine völlig neue Konzerterfahrung [für mich]. Viele Konzertbesucher haben keine musikalische Ausbildung und gerade für solch eine Zielgruppe ist es viel leichter die Essenz des musikalischen Werkes leichter und besser zu verstehen. Des Weiteren erleichtert die konzeptionelle Wechselwirkung und Verbindung verschiedener Künste das Verständnis von Musik. Jeder Konzertbesucher hört individuell und jeder erschließt sich aus seinen Erkenntnissen einen anderen Kontext.
„Mehr als die anderen Künste ist die Musik eine gesellige Kunst, die den Menschen zu friedlichem, harmonischem Tun vereinigt und die beengenden Schranken beiseite wirft, die oft im Leben bestehen. Goethe sagte einmal, heilig ist, was viele Seelen verbindet; diese Wirkung besitze die Musik in hohem Grade. Ihre Macht, das Getrennte zu vereinigen und zu versöhnen, überwindet selbst die Schranken der Völker und Staaten. Aber nicht nur die Ausführenden, auch die Zuhörer vereinigt die Musik oft in wunderbarer Weise.“[3]

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ii- Sing, Vogel meiner Seele, sing! von Heloise Ph. Palmer

Das Konzert „Sing, Vogel meiner Seele, Sing!“ von Heloise Palmer beinhaltet kein gewöhnliches Konzert-programm. Es ist ein Beispiel für die muietische Aufführungspraxis. Andere künstlerische Mittel werden mit in die Musik einbezogen, um dem Zuhörer ein besseres Verständnis der Musik zu ermöglichen.
Thema dieses Programmes ist der jahrhundertealte Palästinakonflikt, welcher heute immer noch sehr aktuell ist. Das Land Palästina, welches symbolisch als Kind dargestellt ist, befindet sich im Konflikt der Zugehörigkeit und Unabhängigkeit. Die Geschichte spielt vor der Kulisse des Nahen Ostens, dort wo Hass, Gewalt und Krieg die Gesellschaft prägen.

Das Konzert beginnt mit einer Einleitung des Erzählers mit den Worten „Es war einmal ein Kind...“ Gleich zu Beginn merkt der Zuhörer, dass dieses Konzert von der heutigen gängigen Konzertpraxis abweicht. Die Künstlerin wählte bewusst Stücke aus, um die Emotionen auch auf den Zuhörer zu übertragen. Der sich aufbauende Streit beziehungsweise die Reibung der beiden Länder, Ägypten und Israel lässt sich auch in der Musik auffinden. Die Spannung und Emotionen laden sich immer weiter auf. Mittendrin in dieser Auseinandersetzung befindet sich Palästina. Dieser „Zank“ der beiden Mütter um die Mutterschaft, wird durch einen Kreidehalbkreis, welcher auf die Leinwand projiziert wird, auch visuell verdeutlicht. Nach ei-nem weiteren sehr spannungsgeladenen Klavierstück ergänz sich der Kreidekreis zu einem Ganzkreis. Diese Anschauung regt den Zuhörer, beziehungsweise in diesem Fall auch Zuschauer zum Nachdenken und Auseinandersetzen an. Die Mitte dieses Kreises stellt das traumatisierte Kind „Palästina“ dar, welches enorm darunter leidet, der Mittelpunkt dieses Streits zu sein.
Natürlich wird auch musikalisch mit sehr vielen Mitteln gearbeitet. Immer wieder tauchen ähnlich klingende Motive auf, welche das Kämpfen der beiden Mütter darstellen. Dieser Konflikt lässt sich unter anderem auch auf die heutige Zeit übertragen. In den kleinen alltäglichen „Kriegen“, so Heloise Palmer, komme es meist nicht zu einer Annäherung, sondern zu einer Verdrängung der Menschen.

Den Höhepunkt des muietischen Abends bilden die beiden Nationalhymnen, die als Audiodatei über die Lautsprecher abgespielt werden. Am Anfang laufen die Hymnen geordnet und klar voneinander getrennt ab, dann aber vermischen sich nach einiger Zeit und werden immer wieder durch ein Kinderlachen unterbrochen. Der Spannungsbogen wird bis zum Stück John Palmers „Midnight doesn’t BE“ aufrechterhalten. Auch diese Komposition spielt mit dem klanglichen Raum des Klaviers. Durch geschickt gewählte Effekte und Techniken der Pianistin, werden dem Zuhörer völlig neue Klänge offenbart. Außerdem kann man dieses Werk auch als eine Art Wendepunkt der Gestaltung des Programms sehen.

Neben dem Einsatz des Klaviers, wurden auch das Toy Piano, beziehungsweise die Blockflöte benutzt, um in die Gefühlswelt des Kindes einzutauchen. Durch das verwenden mehrerer unterschiedlicher Instrumente werden die Emotionen der Charaktere dem Zuhörer viel besser vermittelt. Sogar der Schellenkranz, welcher parallel zum Pedal positioniert wurde und gleichzeitig während des Klavierspiels von der Künstlerin betätigt wird, führt zu einer viel intensiveren Wahrnehmung des Zuhörers. Man setzt sich mit dem Gehörten auseinander, weil man mehrere Eindrücke und Klänge auf einmal, also zeitgleich wahrnehmen kann.
Auf der visuellen Ebene war darüber hinaus ein gezielter Einsatz der Scheinwerfer festzustellen. Das Dimmen und Erhellen des Lichtes diente ebenfalls dazu, den Höreindruck zu erweitern und ergänzen. Zusätzlich zu dem Text „Vogel meiner Seele“ (Heloise Ph. Palmer) sah man als Konzertbesucher außerdem das Bild einer Frau, welche mit einem Regenschirm unter einem Torbogen ins Weite schaut. Ihre Blicke schweifen in das Neue und Unentdeckte. Dieses Bild zusammen mit den Worten „... das Kind soll in Freiheit fliegen...“  beschreibt die Situation Palästinas sehr treffend: Palästina soll in Zukunft den neuen und freien Weg nehmen und sich aus den Mängeln Ägyptens und Israels befreien. Den Konzertabschluss passend dazu, machte das Klavierstück „Vogel als Prophet“ von Robert Schumann.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Musik, durch Ergänzung anderer extramusikalische Mittel, und sei es nur ein kleines schwarzes Tuch, welches über das Toy Piano gelegt wurde, für den Zuhörer eingängiger und leichter zu verstehen ist. Als Zuhörer hat man immer etwas zu verfolgen, man erkennt immer etwas Neues, worüber man sich Gedanken machen kann, was man interpretieren kann. Die Synthese von visueller und hörbarer Ebene beschert, auch einem Musiklaien, ein ganz anderes Hörerlebnis, als ein klassisches Klavierkonzert. Das Visuelle hilft uns, ein besseres Verständnis der Geschichte und einen noch größeren Zusammenhang des Werkes zu erlangen.

Mai 2015; Jonas Imkampe (Fagott)




[3] Auszüge aus: A. Speidel, „Die Bedeutung der Musik im Leben eines Menschen“,  Juni 1951.