Aufruf der Höheren
Descende, Orfëa, fortunam
tuam tempta! visne redire in lucem? ne verteris.
Steige hinab, Orfëa, versuche
heute Dein Glück - willst Du ins Licht zurück, so wende Dich nicht um...
Stimme aus Vielen
Wilde Tiere zähmend,
Verstorbene zurück ins Leben führend: Orfëa! Gottgesandte, allliebend, Engel:
Orfëa!
Orfëa: „Mein Tun ist weder
wunderhaft noch bin ich zauberwirkend.
Die Magie ist keine, doch wage ich,
denkend und mit Taten, das Unvertraute.“
***
Orfëa: „Leben macht frei!“
ihr Alter Ego: Doch auch das Tier lebt, auch
die Pflanze. Dennoch ist der Mensch ungebundener: kann Speise, Wohnraum,
Körperbedeckung frei wählen, entscheiden, wann und ob er sich paaren und
fortpflanzen möchte. Auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wählt er selbst,
bekennt sich zu Veränderung, wünscht sie sogar.
die Höheren:
ne timueris fluctus; sine eis esses ubi?
Fürchte nicht Vergänglichkeit. Ohne sie, wo wärest Du?
Orfëas Alter Ego: Das allein macht den Menschen
nicht frei, es stellt nur eine Höherentwicklung dar,
auch das Tier könnte einst
dahin finden. Entscheidend ist Bewußtheit.
Orfëa: „Was ist Bewußtheit? Wie
drückt sie sich aus?“
ihr Alter Ego: Geschenke machen, zu helfen,
ein Geheimnis - darin zeichnet sich Mensch-Sein aus: Namentlich in der
Freiheit, etwas um seiner selbst willen zu tun, ohne anderes zu bezwecken.
Freiheit macht menschlich. Wir aber leben Schemata. Uns verlangt nach
Sicherheit, die wir durch Routine, Gewohnheiten, Denkmuster und (Vor-)Urteile
erschaffen und zu erhalten suchen. Fortan sind wir unfrei, Gefangene unserer
Annahmen sehen wir unsere Umgebung durch die Augen einmal angenommener
Vorstellungen. -
Erst recht im menschlichen
Miteinander: Das Greifen nach uns bekannten Verhaltensmustern, wir nennen es
Erwartungen oder Erfahrung. Sie sind weder unumstößliche Gegebenheiten noch
bescheren sie uns mehr Freiheit, versklaven uns vielmehr; je besser wir den
Menschen entsprechend unserer Gedankenmuster zu kennen meinen, desto weniger
nehmen wir von ihm wahr.
Orfëa: „Die Freiheit ist ein
Spiel. Gewinnen - verlieren, gewinnen - verlieren. Nimmt man sie zu ernst, ist
sie vorüber.“
ihr Alter Ego: Wie bewußt leben Sie? Sie
möchten außer Haus gehen, brauchen Geld. Wonach werden Sie suchen?
Nach Ihrer
Börse oder nach dem Ort, woselbst Sie das Portemonnaie zuletzt hingelegt haben?
Was nun, wenn dasselbe sich nicht dort befindet, wo Sie es vermuten?
Orfëa: „Bewußtheit zeigt sich in
der Frage: Ich frage, also lebe ich.“ -
***
Orfëa: „Was bedeutet Leben für
Sie? Das, was ist, oder das, wie es sein sollte?“
die Höheren:
vera libertas non est.
vivis. ac vitam vivere liberat.
Oculos aut allevare aut recondere potes; sortem
tenes.
aut vigilare aut dormire potes; sortem tenes. aut credere aut scire
potes; sortem tenes.
Es gibt sie nicht, die eine Freiheit. Du bist am Leben. Und leben macht frei.
Es gibt sie nicht, die eine Freiheit. Du bist am Leben. Und leben macht frei.
Du kannst Dein Auge öffnen
oder schließen, Du hast die Wahl.
Du kannst wachen oder schlafen, Du hast die
Wahl.
Orfëas Alter Ego: Leben heißt fragen. Fragen ist
suchen. Suchen befreit.
Der niemals gestillte DURST, der uns antreibt, immer
neu, hier und jetzt, unendlich oft. -
***
ihr Alter Ego: Frei ist der Mensch, welcher
sich mit anderen verbindet. Das Individuelle trennt, setzt ihn der Unsicherheit
aus. Dem Unvorhersehbaren. Letztlich dem Unbezwingbaren, denn alle Trennung ist
Kampf. Das Bewußtsein der Verbundenheit aller Lebewesen jedoch befreit den Menschen,
ermöglicht das Eintauchen und Innewerden des Undenkbaren.
Vergiß die Illusion
des Scheidenden. Gedenke dessen, was verbindet:
die Höheren:
memento lacrimas - memora risum -
Gedenke der Tränen, erinnere das Lachen.