Muïesis - die Alternative
Urs-Beat Frei spricht mit Heloise Ph. Palmer über eine intensivere Musikwahrnehmung
UBF: Heloise Palmer, Sie sagen, mit Muïesis würden Sie Neuland betreten. Auf den ersten Blick allerdings könnte man meinen, Ihre Programme seien Klavierabende, die verschiedene andere Kunstformen mit einbeziehen und die, wie beispielsweise in Sing, Vogel meiner Seele, sing!, einem Handlungsverlauf folgen. Gab es nicht bereits ähnliche Versuche, etwa Musik und Drama zu verbinden, oder anders gefragt: Was macht Ihr Konzept Muïesis einzigartig?
HPP: Nun, zuallererst wäre es ein Mißverständnis zu meinen, Muïesis würde die Entwicklung einer Handlung im Rahmen eines Konzertabends vorschreiben. Bei dem von Ihnen erwähnten Beispiel ist dies zwar der Fall, jedoch bildet Sing, Vogel meiner Seele, sing! eher eine Ausnahme. Um Kontext zu schaffen braucht es keine sich nach und nach entfaltende Geschichte; dafür kann ein einzelnes Wort, an der richtigen Stelle eingesetzt, reichen. Muïesis ist kein Musikdrama. Es geht auch nicht zwangsläufig um die Gleichstellung aller verwendeten Medien und Kunstformen. Mir geht es um die Musik, um deren intensivere, tiefere Wahrnehmung. Um Musik aller Epochen, aller Gattungen, sogar unkonventioneller Stile. Wenn und solange das Konzerterlebnis beim Empfänger eine gesteigerte Bewußtheit bewirkt oder, wenn Sie so wollen, provoziert, ist "alles erlaubt". Die Einzigartigkeit von Muïesis besteht meiner Ansicht nach genau darin: Durch übergeordnete, auch extra-musikalische Bezugspunkte wird ein Kontext geschaffen. Dieser soll den Zugang zur Musik erleichtern und kann somit ein umfassenderes Erlebnis derselben ermöglichen. Ich bin überzeugt, viele Kompositionen, vor allem dem Zuhörer noch unbekannte, können leichter aufgefaßt, mehr noch, vielleicht gar unvoreingenommen(er) erfahren werden, wenn sie durch etwas bereits Vertrautes "eingeleitet" worden sind. Mir geht es also darum, dem Hörer/der Hörerin gleichsam "die Hand zu reichen". Ein intensives, ja ganz ergreifendes Wahrnehmen der Musik wird so viel einfacher möglich.
UBF: Wenn der gezielte Einbezug außermusikalischer Ausdrucksmittel also ein wesentlicher Bestandteil muïetischer Konzerte ist, gibt es da auch eine Grenze, was noch und was nicht mehr möglich ist?
HPP: Wie gesagt, die Musik muß das Wesentliche bleiben. Sie darf weder instrumentalisiert werden, noch in irgendeiner Weise den anderen Ausdrucksmitteln dienen. Es geht, wie stets, weniger um das Was/Wieviel als um das Wie. Über Maß und Art der verwendeten "Hilfsmittel" entscheidet der Künstler. Er ist in gewisser Weise Dramaturg, Regisseur und Ausführender in einem.
UBF: Wie stellen Sie Ihre Programme zusammen? Wie kommt es zum fertigen muïetischen Konzert?
HPP: Jeder Konzertabend ist für mich eine neue Erfahrung und erfordert eine neue Herangehensweise. Am Anfang können entweder eine oder mehrere Kompositionen stehen, welche mich besonders reizen und die ich gern aufführen möchte. Ich beginne dann damit, mir die neue Musik zu erschließen. Mit der Zeit entwickelt sich eine Idee: Eine Inspiration, die mit dem Werk zusammenhängt, bringt mich auf Gedanken über den passenden Kontext. Schließlich finde ich weitere Kompositionen, die sich in den gewählten Zusammenhang fügen. Es kann aber genauso gut umgekehrt verlaufen: Da ist eine Thema, das ich behandeln möchte, dem sich die Suche nach dazu passenden Musikwerken anschließt. Die Einfälle, welche unterstützenden "Extras" aus den anderen Kunstgattungen ich einbeziehen könnte, kommen mir während der Arbeit an der Musik. Ein besonders zündender Gedanke hilft mir, Texte und Bilder zu erschaffen, die diesen (hoffentlich) überzeugend präsentieren. Oder es gilt eine Rahmenhandlung zu entwerfen, das ist dann komplexer und ein Vorgang, der bis über den Zeitpunkt der Premiere hinaus fortdauert. Ich habe Programme auch schon nach deren Uraufführung modifizieren müssen, weil es mir so schien, als sei die Grundidee nicht eindeutig genug, oder als hätte ich mich zu stark in Details verloren, die aber vom Wesentlichen ablenken. Meistens entwickelt das Programm ohnehin bald ein Eigenleben und entfernt sich von den anfänglich geplanten Einzelheiten. In Sing, Vogel meiner Seele, sing! zum Beispiel wollte ich mich zuerst mit Israel auseinandersetzen und hatte das auch so angekündigt. Dies wurde mir jedoch schnell zu einfarbig, so daß ich den Fokus neu, breiter ansetzte. Mein neues Thema war schließlich "Frieden". Diese Umorientierung erlaubte es, Musik aus Israel und Ägypten, sowie "fremde" Klänge, wie etwa Robert Schumanns Gesänge der Frühe, innerhalb eines Konzertabends vorstellen zu können. Durch eine übergeordnete Kontextualisierung ergab die Werkabfolge nicht nur einen inneren Sinn, Schumanns Spätwerk wurde geradezu zur natürlichen Konsequenz der vorangegangenen Kompositionen aus Nahost. Ein anderes Beispiel stellt mein Programm Abide with me. Bleib stets mir treu dar. Dieses sollte ursprünglich England musikalisch präsentieren. Inmitten der Vorbereitung stieß ich jedoch auf Werke, die ich unbedingt einbeziehen wollte, die aber nichts mit England zu tun haben. Wohl aber mit Ländern des Commonwealth. Heute ist dies eines meiner vielfarbigsten Programme: Ich stelle das British Empire vor, spiele Werke von beispielsweise Akin Euba und beziehe diverse Instrumente - aus Afrika, Indien, Irland usw.- mit ein.
UBF: Heloise Palmer, Ihnen geht es offensichtlich um Themen(-gebiete), von denen man sagen kann, daß sie (uns) alle irgendwie betreffen. Wenn man zurückschaut, haben Sie u.a. die Themen (Selbst-) Reflexion, Integrität oder Selbstwahrnehmung zu Inhalten Ihrer Programme gemacht. Setzen Sie sich damit bewußt vom Mainstream heutiger Konzerte ab, indem Sie solche, sozusagen existenzielle Themen in den Rahmen eines klassischen Klavierkonzerts einbinden? Folgt Ihnen Ihr Publikum soweit?
HPP: Meiner Ansicht nach schließen "Mainstream" und "Kunst" einander aus. Ich suche nicht bewußt nach Abgrenzung, nein. Mich beschäftigen viele Fragen. Wonach ich suche, sind Antworten. Für mich und vielleicht auch für andere Musiker. Muïesis als eine dieser Antworten ist ein Angebot, um zum Beispiel vorherrschende Routinen zu durchbrechen. Solche Alternativen sind meines Erachtens überfällig. Ein Blick in die Geschichte zeigt, daß sich die Aufführungspraxis stets gewandelt und entwickelt hat; heute aber scheint dies nicht mehr der Fall zu sein. Was sich im 19. Jahrhundert bewährt hat, muß heute keineswegs selbstverständlich und angemessen sein. Anscheinend aber herrscht dieses Verständnis noch immer vor. Meiner Überzeugung nach muß sich die Aufführungspraxis im gleichen Maße verändern und entwickeln, wie sich die Musik entwickelt und neue Wege beschreitet. Für mich ist Musik nun einmal ganz und gar nicht bar existentieller Fragestellungen. Sie hat, ebenso wie jede andere Kunstgattung auch, hohes Potenzial, Horizonte aufzuschließen und neue Paradigmen zu entwerfen, kurz: die Entwicklung eines Menschen anzustoßen und ihn zu bereichern. Freilich wird diese Wirkung durch ihre große Abstraktheit erschwert. Sie ist deswegen nicht weniger vorhanden. Ich bestreite vehement, daß Musik allein der Unterhaltung, Zerstreuung und Entspannung dient. Diese Auffassung befremdet mich zutiefst. - Von "meinem" Publikum jedenfalls hoffe ich, daß es offen ist und sich kontinuierlich entwickelt. Daß es hinterfragt, was ihm geboten wird; auch konstruktive Kritik äußert. Wie gesagt: Muïesis ist ein Angebot, kein Dogma. Soweit ich weiß, kommen viele Zuhörer wieder, folgen also tatsächlich dem von mir angebotenen Weg. Darüber hinaus erhalte ich auch immer wieder zustimmende und mich ermutigende Rückmeldungen.
UBF: Sie stecken augenblicklich in den Vorbereitungen zu einem neuen Programm. Gewähren Sie uns doch bitte ein paar Einblicke.
HPP: Sehr gern. Sein Titel lautet The Righteous Fatale (dt. Gerechtigkeit einer Verhängnisvollen) und es stellt den Abschluß meines siebenteiligen Konzertzyklus Gespinstegarten dar. Nach den bisherigen sechs Abenden hatte das Publikum jeweils die Gelegenheit, Assoziationen, Gedanken und Eindrücke mitzuteilen, auf daß sie mir als Keim oder Inspirationsquelle für ein neues Werk dienen können. Ich kommuniziere gern mit meinen Zuhörern. Auf diese Weise wollte ich ihnen die Möglichkeit zu aktiver Teilnahme am schöpferischen Prozeß bieten. Teils habe ich sehr persönliche Zuschriften erhalten, auch an Poesie grenzende Texte, und sehr oft wunderbare Dankesworte, die mir zeigen, daß Muïesis "funktioniert". Zum Beispiel teilte mir ein Zuhörer mit, daß er nun im Alltag keine Musik mehr "nebenbei" hören würde, sondern sich, inspiriert durch seine Erlebnisse während meiner Konzerte, nur noch bewußt damit auseinandersetze. Eine Zuschrift unterschied sich jedoch von allen anderen: Der Komponist James Ingram hat ein Werk speziell für mich respektive einen muïetischen Konzertabend geschrieben. Sein Song Six: Dawn (dt. Morgendämmerung) behandelt eine Episode aus der griechischen Mythologie, nämlich Klytaimestras Klagelied in der Unterwelt, mit dem sie versucht, die Furien zu wecken, damit sie ihren Sohn Orestes verfolgen, um dessen Muttermord zu sühnen. Da dieses Werk für Solisten und "Assistant Performer", eine neu entwickelte Software, geschrieben ist, mußte ich nicht nur mit einem neuen Instrumentarium (Doepfer R2M) umzugehen lernen, sondern darüber hinaus einen Abend kreieren, der das Werk auf natürliche Weise präsentiert, so daß es neben den weiteren Kompositionen nicht als Kuriosität erscheint. Folglich habe ich mich wieder mit Klytaimestra beschäftigt und eine sehr persönliche Interpretation ihrer Geschichte entwickelt. Davon ausgehend habe ich Werke bei anderen Komponisten in Auftrag gegeben (bei John Palmer und einem "Überraschungs"-Künstler), sowie selber zwei Werke geschrieben, nebst einer ganzen Reihe von Texten. Ferner erklingen Kompositionen von Schubert, Mahler, Franck, Mompou, Stephen Montague und Elainie Lillios, sowie Improvisationen. Der Abend wird sich in Anlehnung an das antike Drama entfalten. Wie in allen meinen Programmen verwende ich Elektronik, dieses Mal unter anderem um den Chor als aktiven Protagonisten auf der Bühne zu ermöglichen. Es wird ein Abend voller Ambiguität. Schon zu Beginn ist das Publikum im Ungewissen und zum Mitdenken eingeladen: Ist die auftretende Person nun Klytaimestra, deren Tochter Iphigeneia oder Heloise Ph. Palmer? Wird im Folgenden ein Hochzeitszeremoniell, ein Totenritual oder nur der festliche Aufzug des Chores zelebriert? Neben der hier untermalend eingesetzten Musik spielt auch die Kleidung eine wichtige Rolle und hilft mit, die Unsicherheit und Mehrdeutigkeit zu verstärken. Die Zuhörer werden Texten begegnen, die Klytaimestras prekäre Situation darstellen und diese zugleich transzendieren. Meiner Deutung nach handelt es sich bei der Königin von Mykene um unser Alter Ego, das nach Gerechtigkeit ruft und, wenn nötig, zum Äußersten greift: zur Selbstjustiz. Klytaimestra kann sich mit Missetaten, Unfrieden und Ungerechtigkeit nicht abfinden. Sie zögert nicht, selbst zu handeln, auch wenn das ihr Leben kostet. Ihr Tod bewirkt jedoch nicht, daß sie von ihren Überzeugungen abläßt, noch aus der Unterwelt fordert sie stattdessen Sühne. Eine für mich durchaus verständliche Haltung, obgleich nicht die einzig mögliche. Mein Weg endet denn auch nicht an dieser Stelle, aber mehr möchte ich jetzt nicht verraten...
Dieses Interview fand im November 2013 in Stuttgart statt.
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Urs-Beat Frei ist Kulturwissenschaftler und Philosoph (MA, Universität München). Er lebt in Luzern. Nach Stationen in Paris und Basel war er von 1992-2008 Direktor zweier kunsthistorischer Museen in der Zentralschweiz. In dieser Funktion trat er verschiedentlich auch als Veranstalter innovativer Konzerte in Erscheinung. Seit 2009 ist er freiberuflich tätig als Experte, Dozent und wissenschaftlicher Publizist.
Heloise Ph. Palmer bietet seit 2007 interdisziplinäre Konzertprogramme an und hat diese in Deutschland, Lateinamerika, Israel und den USA präsentiert. Im April 2013 prägte sie den Begriff Muïesis. Neben ihrer Konzerttätigkeit schreibt sie Musik und Poesie, sowie kürzere Prosastücke.